Entschuldigen Sie, sagte der Gewaltige. Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Natasjan. (Er betonte die letzte Silbe, was beim Lesen dieser Niederschrift nun auch immer getan werden sollte. Natasjan geschrieben, Natasjaan gesprochen.)
Paule Berlin nickte erfreut, weshalb den anderen langsam dämmern musste, er kannte den Gewaltigen nicht. Oder das Nichtkennen gehörte auch zum Spiel. Chatschaturjan, Aznavurjan ... Armenischer Abstammung, vermute ich? Ein altes Volk, von dem es schon aus dem Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung Zeugnisse gibt und das im vierten Jahrhundert unserer Zeit christianisiert wurde, dozierte er ganz unnötigerweise. Denn zu den Zeiten war Armenien eine unbedingt bekannte Republik des Bruderlandes, Bestandteil von organisierten Touristenreisen. Die Kirche übernahm die führende Rolle beim Kampf gegen die Araber, Perser, Türken und Mongolen, redete er weiter in der Art von Fremdenführern. (Wollte er dem Gewaltigen gefallen?) Ein faszinierendes Hochland, herrliche Gebirgszüge. Der Sewansee ein absolutes Muss, liebe Genossen. Der heilige Berg Ararat über 5000 Meter, auf dem schon Noah gelandet sein soll, heute leider türkisch.
Auf dem Gesicht des Gewaltigen zeichnete sich unwilliges Erstaunen ab.
Paule!, sagte die Sawatzky. Die Armenier sind eher von kleinem Wuchs. Im Übrigen ist es auch wurscht, wo Herrn Natasjans Vorfahren mal herkamen. Er scheint ein Deutscher.
Die Lidaufschläge des Gewaltigen unendlich langsam, träge. Fast schläfern wirkte er, als er sagte: Die Immobilie so nah an der Grenze bot sich zum Kauf an. Aus den Medien werden Sie sicher erfahren haben, Ihr Land ist bankrott. In seiner Sprache ein scharfes "S", wogegen er harte Konsonanten, ähnlich wie die nemezischen Sachsen, weich behandelte. Später erklärten die Genossen Walja, der Gewaltige, wo auch immer seine Vorfahren herstammten, sei im Schwäbischen aufgewachsen. Die Schwaben ein umtriebiges Völkchen. Ähnlich wie die Sachsen überall auf der Welt zu finden. Und in der späteren deutschen Bundeshauptstadt nach den Nemezen und Türken die drittgrößte Minderheit. Der schwäbische Zungenschlag des Gewaltigen war es wohl, der Heil und seine Gäste von der Ungeheuerlichkeit überzeugte, dass sie tatsächlich, ohne sich von der Stelle zu rühren, auf deutsches Territorium geraten waren.
24 Milliarden Deutsche Mark Schulden, sagte der Gewaltige.
So viel! Ottilie Ehrlicher staunte über die genannte Summe und glaubte sie dem Anschein nach sofort. Auch die Übrigen blickten niedergeschlagen. Man ahnte, ja man wusste: Die Nemezen lebten seit der Regierung des Beutedeutschen aus saarländischem Land über ihre Verhältnisse. Die Einheit von Wirtschaft und Sozialpolitik forderte der Wirtschaft ab, was sie immer weniger leisten konnte. Den Slogan abwandelnd, der da lautete "Wie wir arbeiten, so leben wir", sagte der Volksmund: "Wir haben noch nie so gearbeitet, wie wir leben." Erst kürzlich hatte man eine Milliarde Kredit vom Bayern-Blum erhalten, dem am Fortbestehen Nemeziens aus welchen Gründen auch immer gelegen war. Dass nemezische Kunstschätze nach Deutschland verhökert wurden, war nicht mehr zu verheimlichen. Die Eigentumsverhältnisse auf der Museums-Insel, undurchsichtig. Noch konnten die Nemezen gegen Vorlage ihres Personalausweises in einheimischer Münze bezahlen. Aber Ausländer, ob westlicher oder östlicher Abstammung, hatten bei Besuch des Pergamonaltars in harter Währung zu blechen. In der Dresdener Gemäldegalerie verhielt es sich ähnlich. Wobei sich wichtige Bilder wie die Sixtinische Madonna seit Jahren angeblich in Restaurierungswerkstätten befanden, womöglich waren sie schon verhökert.
Lothar hatte sich also aus dem Staube gemacht und sie den Deutschen überlassen! Vielleicht war er auch vertrieben worden. Kater Kasimir hätte auf jeden Fall seinem Lieblingsmenschen folgen können. Aber er hatte auf seinem Thron verharrt und sich den Herrn Natasjan als neuen Versorger ausgeguckt.
Ja, dann rufen Sie uns freundlicherweise ein Taxi! Berta Watersloh hatte in ihrem Leben schon mehrerlei erlebt und war am wenigsten beeindruckt.
Drei Taxis!, sagte der sonst heiter gesonnene Gunter Scherzer bestimmt. Ich muss Sie leider bitten, die Nacht hier zu verbringen!, erwiderte der Gewaltige. Auf seinen Schultern hockten mit einem Mal rechts und links junge Kater, weiß mit grauem Überwurf Ihre Schwanzspitzen zuckten. Die des einen weiß, des anderen schwarz. Die Augen des Katers mit der weißen Schwanzspitze, den Walja für sich Moritz nannte, wie rot leuchtend und das Gesicht ein wenig wölfisch, während der andere ein hübscher Nachkömmling von Kasimir sein konnte, selbstverständlich kleiner und viel weißer als er, herzhaft treu blickend, wenn ihm danach zumute war. Quasi ein reingewaschener kleiner Kasimir mit passend graugrünen Augen. Die Kater waren offenbar dem Gewaltigen den Rücken hinaufgelaufen, ohne dass man es bemerkt hatte. Der sich Natasjan nannte, demnach ein Katzenliebhaber. Er hob seine Arme und kraulte ihnen mit seinen Pranken den Rücken. Durch diese Geste wurden die im CdK Verbliebenen keineswegs beruhigt.
Warum um Himmels willen!, dröhnte die Sawatzky. Sie wollen uns doch hier nicht festhalten. Was hätte das für einen Sinn?
Ottilie, sonst eher langsamer Denkart, hatte einen ihrer Geistesblitze. Haben Sie etwa vor, uns gegen Bürgerrechtler auszutauschen?, erboste sie sich mit flammend lila Augen. Ihre Ohrgehänge klingelten.
(Menschenhandel war zu der Zeit üblich. Meist verkaufte die nemezische Regierung ihre widerständigen Elemente nach Deutschland, nachdem sie die verhaftet und, falls noch etwas zu holen war, enterbt hatte. Zu Zeiten offener Grenzen soll es sogar Kidnapping von beiden Seiten aus häufiger gegeben haben. Viele Fälle wurden nie aufgeklärt.)
Nein, das haben wir nicht vor. Der Gewaltige sprach mit großer Ruhe. Aber der EU-Kommissar Doldinger hätte gern eine Meinung von Ihnen, bevor Sie sich entscheiden, ob Sie sich wieder auf nemezisches Gebiet begeben. Wenn Sie bitte darlegten, wie Sie sich im Fall, die Mauer zwischen Nemezien und Deutschland existierte nicht mehr, die Geschicke von Nemezien und Deutschland vorstellen.
Hem?, machte Ottilie Ehrlicher, schaute den Gewaltigen mit ihren großen lilafarbenen Augen an, als hätte sie gerade den Beschluss ihrer Hinrichtung erfahren.
Ottilie!, ermahnte der junge Schulz seine ältere Kollegin. Denn wie alle kannte er sie und wusste, dass sie schnell die Fassung verlor.
So konnte der Gewaltige ungestört weitersprechen. Falls Sie sich entschließen könnten, in Deutschland zu bleiben, bekommen Sie deutsche Pässe, Wohnungen und lebenslange Stipendien beziehungsweise ausreichende Renten ausgesetzt.
Wir hatten jederzeit die Gelegenheit, um Asyl zu bitten und uns an die Wehnauer-Stiftung zu wenden, sagte der junge Schulz, der sich in dieser Nacht als Kämpfer erwies. Er lächelte verächtlich ob dieses Angebots, nach dem sich Millionen Nemezen die Finger geleckt hätten.
Sie! Ich will nach Hause in mein Bett!, herrschte Berta den Gewaltigen an. Meine Meinung können Sie jetzt sofort haben! Unser Staat ist beschissen. Aber Ihr Staat ist noch beschissener. Und eine Vereinigung? Vereinigen Sie Feuer und Wasser!
Was das Feuer nicht vernichtet, geht durch den Wasserschaden flöten, sagte keck der junge Schulz. Bei jeder Feuerlöschaktion bleibt auf alle Fälle eine Ruine zurück.
Der Gewaltige lachte leise, und es hörte sich angenehm an.
Ein Taxi!, beharrte Berta Watersloh altersstarrsinnig.
Natasjan sah die alte Frau an. Das Weiße ober- und unterhalb der Pupillen sichtbar. Unendlich langsam schläfern wieder seine Lidschläge. Berta hatte sich offenbar so erschöpft, dass sie die Augen schloss und wegdämmerte.
Zwei schlanke junge Herren in roter Livree erschienen. Ihre Gesichter merkte man sich nicht einmal beim hundertsten Hinsehen. Die übrigen im CdK Verbliebenen machten ihnen Platz. Die Livrierten trugen die alte Berta hinaus, als sei sie eine Figur aus Pappmaschee. Merkwürdig steif war sie übrigens. Doch außer Walja schien dies niemanden zu verwundern.
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