Beate Morgenstern
Küsse für Butzemännchen
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Inhaltsverzeichnis
Titel Beate Morgenstern Küsse für Butzemännchen Dieses ebook wurde erstellt bei
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Impressum neobooks
Ein Schlag wie ein Stromstoß, ausgelöst von einem Namen, in der Aktuellen Kamera genannt, den Halb-acht-Uhr-Nachrichten des Fernsehens der DDR. Fünfeichen, hatte der Gutsbesitzer Dressel damals gesagt, hatte - den eigenen nahen Tod vor Augen - nicht geschwiegen, Nachricht gegeben vom Weg, den er gemeinsam mit dem Vater von Anfang an gegangen war, Bautzen, eine polnische Domäne, Graudentz, zuletzt Fünfeichen, ein kleines Lager des NKWD und das nördlichste der dreizehn in der sowjetischen Besatzungszone. Die Mutter und Susanne wussten von nun an, wann der Vater an Hunger und Entkräftung gestorben war und wo. 43 Jahre tot. An einem Märzabend 1990 wiedererstanden: Kameraschwenks über ein Waldstück. Eichen, noch nicht so kräftig, ein Anemonenfeld. Gräben durch dieses Feld gezogen, menschliche Skelette freigelegt. Bekannt die Bilder, mit denen war man aufgewachsen. Sie hatten das Volk der DDR warnen sollen: Nie wieder! Die Bilder betrafen Konzentrationslager der Nazis, Massengräber der von ihnen Hingerichteten. Es durfte nicht laut werden, dass in denselben Lagern auch nach 45 gestorben wurde. Leute, die abgeholt worden waren. Nazigrößen weniger, die waren in der Regel westwärts geflohen. Über Schuld mehr oder minder befand kein Gericht. Ein Hinweis genügte, von einem missgünstigen Nachbarn zum Beispiel, von einem, der seine eigene Haut retten wollte. Das war bis 45 so, das war danach nicht anders. Ein Leben lang Schweigen. Andeutungen nur zu Freunden. Dann Rechtfertigungszwang. In der NSDAP sei er wohl gewesen. Doch von der Verwandtschaft gedrängt wegen des Geschäfts. Alle Inhaber großer Geschäfte im Ort waren eingetreten. Und nur vier Wochen Zellenleiter. Obwohl schon 38 Jahre alt und ohne militärischen Rang, wurde er gleich am Anfang des Krieges einberufen, als habe man ihn weg haben wollen, als hätte er Feinde im Ort gehabt, wie die Mutter vermutete. Übrigens sei er trotz eines für eine Offizierslaufbahn ausreichenden Bildungsgrades bis zuletzt Gefreiter geblieben. Schreibstubenhengst. Und hätte ein Nazi wohl ein Mädchen jüdischen Namens adoptiert? Genaues über ihre Herkunft könne sie nicht nachweisen. Die Mutter hätte dem Vater alles überlassen oder absichtlich vergessen. Sie sagte nur, er habe unbedingt Susanne haben wollen, die damals noch klangvoll Susanna hieß. Auch die Frau, die Susanne zur Adoption freigegeben hatte, wollte oder konnte nicht sprechen. Vielleicht funktionierten noch alte Verdrängungsmechanismen. Sie verwies auf ihren 1926 nach Amerika ausgewanderten Bruder Georg, der hätte mit Susannes Vater verhandelt, war eigens wegen ihrer Geburt und Adoption noch einmal nach Nazi-Deutschland zurückgekehrt. Im Übrigen hätten sich die drei Männer der Familie - Susannes Großvater und die beiden Brüder - vor Georgs Auswanderung um die eventuelle Bereinigung der Dokumente gekümmert. Ein einziges kleines Zeichen ließ Susanne glauben, dass ihre jüdische Herkunft mehr als eine Vermutung war: ein kleiner Davidsstern, den der amerikanische Onkel Susanne in einem winzigen Päckchen zuschickte, als sie erwachsen geworden war. Er bekräftigte des Vaters Unschuld. Die Freunde hörten Susanne zu, schienen zu glauben. Einmal sprach jemand aus, was andere möglicherweise auch dachten: Wo gehobelt wird, fallen Späne. Susanne hatte verdrängt, mühsam die Erinnerung weggeschlossen. Nun war sie nicht mehr zu kontrollieren, brach heraus. Die Hände krampften, die Zähne schlugen aufeinander. Sie hörte sich laut schreien. Es war ihr, als risse es sie auseinander. Tränen stürzten, flossen unaufhörlich. Sie hustete. Die Luft blieb ihr weg. Viele Jahre diese Träume: Unter Leichenbergen wacht sie auf, kann sich nicht von den auf ihr liegenden Toten befreien, bekommt kaum Atem. Susanne setzte die Flasche an. Der Rum würgte sie, sie röchelte, schnappte nach Luft, fiel über den Tisch, rutschte zu Boden.
Das Licht tat weh. Werkstattgeräusche vom Hof her, Hämmern gegen Metall. Ein Hund schlug an. Mittag war es wohl. Morgens hatte sie sich aufs Rad gesetzt, lieber einen Sturz in Kauf nehmend, als die Allee an den S-Bahngleisen hinunter zu laufen zum Kiosk am Bahnhof. Sehen wollte sie, ob sie sich vielleicht getäuscht hatte, und die Bilder abends zuvor in der Aktuellen Kamera waren in Wirklichkeit nur durch die Erinnerung vorverlegte Albträume der Nacht. Doch sie hatte sich nicht getäuscht. Die Zeitungen waren voll von Fotos der Art wie in der Nachrichtensendung. Dieselben Zeitungen, dieselbe Nachrichtensendung berichteten von dem, was sie immer verschwiegen hatten. Das allein war schon ungeheuerlich, nicht zu glauben, zeigte eine Zeitenwende an, die sie nur in den Endvierzigerjahren, allenfalls in den Fünfzigern, für möglich gehalten hatte. Mit Staunen, mit Angst reagierte sie. Umbruchzeiten erforderten Kraft. Sie hatte keine mehr, schon lange nicht. Lebte gerade so. Medikamente ermöglichten ihr eine erträgliche Situation. Nach Gleichmaß, Sicherheit verlangte es sie. Stattdessen beunruhigten sie Wahrheiten. Was kam alles ans Tageslicht, was man nicht gewusst, was man gewusst hatte! Nun wurde auch das Grab geöffnet, das Massengrab, in dem sie nächtelang statt des Vaters oder mit ihm begraben gelegen hatte. Oder sie lag unter jüdischen Häftlingen, hatte sich ein Was-wäre-wenn-Schicksal ausgeträumt. Irgendwie war sie zurück in ihre Wohnung gekommen, war nicht über die von Wurzeln der alten Linden angehobenen Gehwegplatten gestürzt. Sie hatte die Zeitungen auf dem Tisch ausgebreitet, wieder zur Flasche gegriffen, trotz ihres Bluthochdrucks. Das konnte ihr Ende sein. Egal. Susanne versuchte, sich auf die Beine zu stellen. Wie zwei Stelzen, wie zwei Dinger aus Holz, dachte sie, als es ihr gelang. Sie tappte zum Fenster, öffnete es. Die saubere Märzluft schlug sie zurück ins Zimmer. Sie fand sich auf dem Boden heulend, an allen Gliedern schlotternd. Taumelnd richtete sie sich wieder auf, wusste nichts Besseres als die Flasche. Die würde ihr zu weiterer Bewusstlosigkeit verhelfen. Eine Erinnerungsflut setzte ein, überschwemmte sie, riss sie mit sich fort in eine vergessene Zeit, in eine vergessene Geschichte. Was ging sie diese Geschichte an, was gingen sie die Geschichten an! Der Vater lange tot, die Mutter seit drei Jahren. Was war mit ihr los, dass die Gegenwart entschwand, sich auf einfache Mechanismen wie Essen, Trinken und so weiter reduzierte? Als wäre die Erwachsene nur Mantel, nur Hülle für das Kind, als das sie sich nun erlebte. Wenigstens war sie dem Schicksal nicht so ausgeliefert wie einst, erhielt von dem Kind etwas Vorauswissen, was jedoch die Intensität des Erlebens nicht minderte:
Die Ladenglocke bimmelt. Frau Boehm & Burkard, ruft es, auf und zu geht die Küchentür. Am Fenster klopft es. Rosie öffnet. Jaja, ich frach mal, sagt sie, ruft: Frau Boehm & Burkard! Schon steht die Mutter wieder in der Küche. Das kenntn Se aber wissn, im zweeten Laacher ganz hindn!, erklärt sie zum Fenster hinaus dem Hofarbeiter. Machs Fenster zu, is kalt, Rosie, sagt sie. Und dass de Suppe nich anbrennt und dass mir das Nannchen keene Dummheitn nich macht! Vor Rosie war ein anderes Mädchen da. Kornblumenblau!, sang sie immer. Ssss, macht die Stubenfliege Monika, kreist am Fenster. Fliege, wenn ich dich kriege, reiß ich dir die Beine aus, dann kommst du in ein Krankenhaus, singen die Kinder. Der Stubenfliege wird kein Bein ausgerissen. Den ganzen Winter hat sie mit Zuckerwasser überlebt, wird im Haushalt respektiert, denn sie ist Susannes Freundin, die einzige. Von ihrem hohen Kinderstuhl in der Fensterecke unter dem schwarzen Radio, der Goebbelsharfe, hat Susanne den Überblick. Mittags wird der Kinderstuhl an den Tisch gerollt. Essen gibt es für Susanne, für die Mutter, Rosie, Frau Landmann und die zweite Verkäuferin, für die beiden Hofarbeiter und eine Tochter vom ehemaligen Hofarbeiter Mikoleit, den man entlassen musste. Doch was können die Kinder für den Vater. Deswegen sitzt eine Tochter Mikoleit mit am Tisch. Die einen werden in Susannes Geschichten etwas mehr zu tun kriegen, die anderen weniger. Der Mikoleit-Vater bekommt eine Rolle im Hintergrund. Doch bis er seine Rolle in Susannes Leben spielt, vergehen noch Jahre.
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