Die frühesten Erinnerungen hängen mit dem Essen zusammen. Mit Susannes Ungeschick, sie stößt die Tasse Kakao an, die fällt um, der Kakao ergießt sich über die Wachstuchdecke der breiten Spielfläche ihres heruntergeklappten Kinderstuhls. Kopfnüsse setzt es. Und weil das gar nichts nützt und Susanne nun auch noch mit der falschen Hand zuzugreifen beginnt, geht die Mutter ins Lager. Susanne hört etwas rasseln, hört, die Mutter nimmt etwas Schweres vom Haken.
Es ist ein Ochsenziemer, eine Peitsche mit vielen dünnen Lederriemchen. So, damitte weeßt, was in Zukunft passiert, das is kee Spaß, denke das nich! Die Mutter hebt den Arm. Die Lederriemen fallen auf Susanne herunter, erst mal nur sacht.
Mit dem Essen hat auch die andere Erinnerung zu tun, und zwar mit Susannes Unvermögen aufzuessen. Ein Löffel für Vadi! Der Vati ist im Krieg, der soll bekommen. Ein Löffel für Oma. Die liegt immer im Bett, soll auch bekommen. Ein Löffel für Rosie! Soll auch die ihren Löffel abhaben. Ein Löffel für Frau Landmann. Der schönen Frau Landmann kann Susanne nichts abschlagen, obwohl der Grießbrei in ihrem Mund quillt, mehr wird statt weniger. Einen Löffel für Muddi! Susanne brüllt, will auch von der zweiten Verkäuferin nichts wissen und von den Hofarbeitern nicht und der Mikoleit-Tochter nicht. Susanne brüllt, die Mutter stopft. Was aufn Teller kommt, wird aufgegessen, wo gibs'n so was. Annere Leute hungern! Susanne wird gleich allen Brei wieder herausbringen. Sie ist ganz sicher, sie kann nicht mehr, schiebt den Teller mit Gewalt von sich. Wuch, unten liegt er, liegt auf dem Boden, wo er hingehört. Oho! Ich sperr dich innen Keller! Susanne denkt: abwarten! Lassen Sie doch das Kind! Frau Landmann mischt sich ein. Da wird die Mutter erst richtig wütend. Einfach den Teller runterschmeißn mitm gudn Essen? Das soll icher durchgehn lassn? Die Mutter zerrt sie am Kragen aus der Küche, die halbe Treppe hinunter. Susanne wehrt sich, klammert sich an jede Geländerstange. Die Mieter aus dem Haus schauen die Treppe hinunter. Die Mutter muss sich gegen zwei Parteien verteidigen, gegen das Kind und gegen die Hausbewohner. Sie hat was zu beweisen. Sie ist die Besitzerin. Bei jeder Gelegenheit demonstriert die Tochter eines Bauchwarenhändlers ihre Macht. Eine "gute" ist Burkard-Gerda nicht, ihre Mutter, jetzt bettlägerig, war erst recht keine "gute", und selbst von Tante Else, der 17 Jahre älteren Schwester der Mutter, wird ihr später nichts von Gutherzigkeit berichtet. Dass de ja nich denkst, du kommst innen Lattenkeller, sagt die Mutter, innen Kohlenkeller kommste. Susanne zuckt zusammen. Im Kohlenkeller ist es mitten am Tag schwarzdunkle Nacht. Und schwarzdunkle Nacht hat man zu fürchten mehr als alles sonst. Geht die Mutter abends mit Susanne, sagt sie: Da langt ja gleich eener ausm Hinterhalt. Oder: Da denkt mer doch, glei kommt eener hinterm Boom vor! Die Mutter fürchtet sich und lehrt Susanne das Fürchten. Susanne hat eine Vorstellung von dem, der ihnen überall auflauert. Ein Mann ist es, zieht einen mit einem Würgegriff für immer hinein in die Dunkelheit, macht, dass man aufhört zu sehen, aufhört zu hören. Susanne will sich losreißen. Die Mutter packt sie, wirft sie von sich wie eine Katze, holt schnell die Tür heran, schließt sie ab. Susanne trommelt gegen die Bretter. Bald ist es aus mit ihr. Hörte sie ihre Stimme nicht, würde sich ihr Körper in der Nacht vielleicht auflösen. Kaum bekommt sie Luft. Aber schreien, schreien muss sie. Stimmen, miteinander streitende Stimmen, nähern sich. Susanne nimmt dies als Nebengeräusch zur Kenntnis, als sei Rettung nicht mehr möglich. Die Tür wird aufgeschlossen. Danke, danke! Susanne fällt vor der Mutter auf die Knie. Ich will mich bessern, ich will mich ja bessern, verspricht sie, streichelt ihre Erlöserin. Machste das noch mal? Nein! Immer wird Susanne alles aufessen! Hand in Hand gehen Mutter und Tochter zurück in die Wohnung. Alles ist gut, denkt Susanne. Den nächsten Teller Grießbrei am nächsten Tag oder zur nächsten Mahlzeit wird sie essen, wenn sie auch schon gar nicht mehr kann.
Etwas geschieht, das Susanne außer Fassung bringt: Die Mutter setzt ihr gleich einen Teller mit Brei vor, begeht damit in Susannes Augen Verrat. Stumm sitzt Susanne vor ihrem Teller. Die Mutter räumt das Essen ab, geht ins Lager. Susanne hört, dass sie etwas Schweres vom Haken nimmt, hat sich das Geräusch eingeprägt. Aller Widerstand bricht zusammen. Nich beesen, nich beesen!, ruft sie. Noch einmal lässt es die Mutter bei einer Drohgebärde bewenden, lacht über das sich ängstigende Kind, wird es später immer wieder erzählen. Susanne braucht sie es nicht zu erzählen. Die erinnert sich gut, weiß, was sie in dieser Stunde entdeckte: In der ganzen Wohnung ist es unruhig, überall sind Menschen. Plötzlich fürchtet sie die Menschen, die hin und her durch die Wohnung laufen. Ein dauerhaftes Gefühl davon, nirgendwo ein Zuhause, eine Zuflucht zu haben, bemächtigt sich ihrer. Auf der Suche nach einer Zuflucht findet sie endlich eine Tür im Kontor, gerät in ein Zimmer, das sie noch nicht kennt: die Gute Stube. Stundenlang sitzt sie unter dem Schreibtisch, mucksmäuschenstill. Oder sie verkriecht sich im Lager, wo man sie kaum findet. Da hat es sie schon immer hingezogen. Sie steigt in die Kisten, Kasten, schläft manchmal in der dämmrigen Ruhe ein. Spätabends wundern sich die Erwachsenen, weil das Kind gar nicht wieder auftaucht. Sie gehen das Lager ab, die Regale, stoßen manchmal in großer Höhe auf das schlafende Mädchen. Wie isse da bloß naufgekommen?, wundern sich die Erwachsenen. Eine bemerkenswerte Leistung, meinen sie. Die Mutter ist stolz.
Bald geschieht etwas noch Bemerkenswerteres. Warum die Dreijährige losgezogen ist, darum macht sich die Mutter keine Gedanken, da sie ja mit militärischen Ehren zurückgebracht wurde. Susanne erkundet zum ersten Mal Fluchtmöglichkeiten. Einen Plan hat sie nicht. Sie will sich lediglich der Mutter entziehen, geht zur Hoftür hinaus und immer weiter durch Euba hindurch. Langt an der Ortsgrenze der Kleinstadt an, was ein ganzes Stück Weg bedeutet für ein kleines Mädchen, das sich mit dem Laufenlernen viel Zeit nimmt. Ein Bauer fährt mit seinem Wagen an ihr vorbei. Wo willst'n hin?, fragt er. Mit einem Mal fällt Susanne ein, dass sie mit der Mutter hinüber in den anderen Ort gefahren ist. Die Mutter zeigte ihr das Haus, in dem sie früher mit der Oma gewohnt hatte. Zur Oma!, sagt Susanne schlau und glaubhaft. Der Bauer lässt das Kind auf den Kutschbock hinauf, liefert sie im Kilometer entfernten Dorf vor dem Haus der Oma ab. Susanne läuft hierhin, dahin, verkringelt sich, weiß nicht mehr, wo sie ist. Was sie nicht ängstigt. Ein großes Gut sieht sie, spaziert hinein, weiß nun, sie befindet sich im Rittergut. Dort ist Kavallerie einquartiert. Die Soldaten lachen. Einer erzählt es den anderen: Die Burkard-Nanne! Die Tochter von Boehm & Burkard. Susanne hat ihre Erwartungen. Manchmal kutschiert die Tochter vom Gutsbesitzer mit ihrem Kutschwägelchen nach Euba hinüber. Jungsschnitt und Jungssachen trägt sie, weil der Vater lieber einen Sohn gehabt hätte. Vielleicht bringt das Mädchen sie mit ihrem Wägelchen nach Hause. Der Herr Major erscheint. So klein Susanne ist, mit Rangabzeichen kennt sie sich aus. Der Herr Major lässt die Kavallerie antreten, Reiter samt Pferden. Susannes Begeisterung beginnt. Und keine Grenzen kennt diese mehr, als der Major aufsitzt und Susanne zu ihm aufs Pferd gehoben wird. Die Kavallerie reitet aus. An der Spitze der Major mit dem einzigen Schimmel, auf dem Sattel vor ihm Susanne. Hoch zu Ross hält sie mit dem Major Einzug in Euba. Man hat das Jahr 1941. In Euba herrschen quasi noch Friedenszeiten. Die Eubener staunen: Die Tochter vom Boehm & Burkard, die Burkard-Nanne, nei, so ein Mädel! Am Bahnhofsvorplatz im Laden der Mutter werden die Leute schließlich ebenfalls aufmerksam. Frau Beem un Purgert, guckn Se doch mal, wer da kommt! Die Mutter hat ihre Augen bei den Waren, bei den Kunden, kann weiß Gott nicht nach draußen schauen, obwohl die großen Schaufenster einen Blick bieten. Nun aber sieht sie auf. Ach de Kafallerie vom Rittergut, sagt sie. Dann erst bemerkt sie das kleine Mädchen hoch zu Ross, und noch einen Augenblick später erkennt sie in ihm ihre Tochter. Die Kavallerie hält auf dem Bahnhofsvorplatz an. Ein Soldat sitzt ab, hebt Susanne vom Schimmel. Mit der wern Se noch was erlehm, ei nee, son intelligendes Kind! Die Leute können sich nicht genug tun, Susanne zu bewundern und die Mutter zu beglückwünschen. Susannes Abenteuer hat ein Ende. Es wiederholt sich nicht, so sehr Susanne sich auch bemüht. Der Weg zum Rittergut bleibt unauffindbar.
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