Beate Morgenstern
Nest im Kopf
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Inhaltsverzeichnis
Titel Beate Morgenstern Nest im Kopf Dieses ebook wurde erstellt bei
Vorbemerkung
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Impressum neobooks
Gottshut gibt es auf keiner Landkarte. Es ist ein Ort meiner Erinnerung. Erinnerungen täuschen, irren, verwandeln. Es ist ein Ort meiner Fantasie. Auch andere im Buch genannte Dörfer und Städte, sofern sie nicht authentische Namen tragen, entstammen der Welt meiner Fantasie, ebenfalls die Menschen. Falls Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen bestehen, sind diese zufällig und nicht beabsichtigt. Die verwendeten Dokumente sind authentisch, die Namen darin hauptsächlich dann verändert, wenn sie im direkten Zusammenhang mit einer literarischen Figur stehen.
B.M.
In der Nacht, bevor Anna nach Gottshut fuhr, hatte sie diesen Traum:
In der Mitte der Dunkelheit sah sie Licht wie über einem Moor. Sie glitt auf das Licht zu. Da löste es sich in Helligkeiten und Dunkelheiten auf aus denen sich Bilder formten. Sie erkannte sich als Fünf- oder Sechsjährige an den hellen Locken, die spiralförmig den Kopf herunterhingen. Obwohl sie als Älteste die Geschwister überragte, schienen sie sonst alle in einem Alter.
Sie hielt die Fotos in den Händen und sah voller Glück eine Zeit abgebildet, von der sie bisher nur eine schwache Ahnung gehabt hatte. Die Kinder, hellhaarig und wenig bekleidet, saßen einträchtig auf einer alten Holzbank, dann wieder waren sie in ein Spiel vertieft, und nur eines schaute sie an, und das war immer sie selbst. Die Fotos ähnelten in gewisser Weise denen, die sie schon kannte. Die Kinder waren in Licht- und Schattenflecken eines Laubwaldes getaucht, sodass sie erst genau hinsehen musste, um die Gesichter zu erkennen. Die Fotos bekamen eine ungeheure Tiefe, als könne sie hineingreifen wie in ein offenes Fenster. Mit Bestimmtheit wusste sie jetzt, dass die Kinder sich auf dem mit Buchen bewachsenen Berg befanden. Sie spürte den herben Geschmack der Bucheckern auf der Zunge und die Splitter zwischen den Zähnen.
Wem gehören die Fotos? fragte sie und stand auf einer langen, schmalen Straße. Wer hat die Fotos dreißig Jahre aufbewahrt, ohne dass wir davon wussten? Die Flickschneiderin, war die Antwort. Es konnte auch nur die Flickschneiderin sein, schien ihr. Sie ging die Straße hinauf zu einem Haus, von dem sie annahm, dass die Flickschneiderin darin wohne. Aber dort stand nur eine mit Grün überwucherte Ruine. Die Frau zeigte sich nicht. Wahrscheinlich war sie tot. So konnte sie nicht um die Fotos bitten, mit denen sie eine Zeit voller Frieden und Harmonie in die Gegenwart hinüberretten wollte. Ohne Einwilligung der Frau hatte sie kein Recht auf die Fotos. Sie entglitten ihren Händen. Eine unsagbare Traurigkeit erfüllte sie.
Anna wachte auf.
Lange Zeit hatte sie angenommen, dass alle Menschen in den Nächten von ihrer Kindheit träumten. Als sie herausfand, dass die Träume anderer Menschen, selbst die ihrer Geschwister, sich kaum mit der Kindheit beschäftigten, war sie beschämt. Sie sah nun in ihren Träumen eine Art Krankheit, die sie vor anderen besser verbarg. Doch hatte sie Anzeichen dafür bemerkt, dass die in der Kindheit empfangenen Eindrücke für jeden Menschen tief waren. Auch diejenigen, die jegliche Beziehung zu ihren Müttern leugneten, wurden von deren Tod plötzlich tief erschüttert und ertrugen es schwer, von da an nicht mehr Kind einer Mutter zu sein, niemanden mehr zu haben, der sie vor dem eigenen Tod schützte, niemanden, der ihnen voranging. Anna vermutete eine Nabelschnur, die insgeheim die Kinder ein Leben lang mit den Müttern verband, sodass sie sich erst nach dem Sterben der Mütter wirklich allein und dem Leben wie dem Tod ganz ausgeliefert fühlten.
Hätte Anna es nicht besser gewusst, wäre sie im Glauben gewesen, sie träume die ganze Nacht und verbringe ihr eigentliches Leben in dieser Zeit. Außer von ihrer Familie träumte sie von dem Mann, den sie liebte. Die Beziehung bestand seit Jahren. Doch sie lebten nicht zusammen. Er hat sein Leben schon anders eingerichtet, hatte sie einmal einer Kollegin erklärt. Was er für sie empfand, darüber war sie sich nicht im Klaren.
Meist lag Anna schon lange wach, ehe sie aufstand. Dennoch fiel ihr das Aufstehen schwer. Sie fürchtete die Prozedur des Duschens, Eincremens, Ankleidens und mehr noch als diese mechanischen Handlungen die Anstrengung der Verwandlung in den Tagmenschen. Saß sie erst einmal angekleidet am Frühstückstisch, wunderte sie sich selbst über ihre plötzliche Frische. Sie fühlte sich für den Tag gerüstet. So würden ihre Eltern sagen. Kleidung und Make-up gaben ihr Haltung. Sie schätzte diesen alten Begriff. Disziplin ersetzte ihr die oft fehlende innere Energie. Und ihr graute vor dem Alter, wenn sie nicht mehr gezwungen wäre, um eine bestimmte Zeit aufzustehen und sich korrekt zu kleiden. Doch konnte sie sich auch vorstellen, dass sie sich dann sogar noch eher aufraffte als jetzt. Vielleicht würde sie aus dem Bett springen und Gymnastik treiben wie ihre Großmutter. Alles bis zum Frühstück wäre ein umfangreiches Programm, das sie als Pflichtübung zu absolvieren hätte. Und die einzigen Pflichten, sich und den Haushalt in Ordnung zu halten, nähme sie dann furchtbar ernst.
Für das Frühstück hatte sich Anna schon als Studentin viel Zeit gelassen. Sie dehnte es aus, zögerte den Absprung in den Tag hinaus. Und dann lief alles von selbst. Entweder saß sie in der Redaktion am Schreibtisch, die gewohnten Gesichter der Kollegen um sich, die sie sich als Freunde nie ausgesucht hätte. Aber das gefiel ihr. Denn so schliffen sich Empfindlichkeiten ab. Oder sie reiste herum, befragte Menschen, lernte neue Orte kennen, fand sich in neuen Situationen zurecht. Sie hatte ein ruhiges und bestimmtes Auftreten erlernt, bei dem das Bewusstsein, gut und teuer gekleidet zu sein, eine wichtige Rolle spielte. Sie vergaß ihre eigentliche Trägheit. Menschen interessierten sie, und in ihrer Neugier war sie gründlich, ließ nicht los, bis sie alles erfahren hatte.
Doch dann mit der Dämmerung oder schon früher, wenn sie sich unrein und verbraucht vorkam, nichts mehr sie vorantrieb, erschlaffte sie wieder, erlag dem Nachtmenschen. Hatte sie nichts für den Abend vor, döste sie vor sich hin, schlief recht früh ein. Sie schlief viel, lange. Und dann begann sie zu träumen. Immer dieselben Träume. Ihr Freund. Ihre Familie.
An dem Morgen des Tages allerdings, an dem Anna nach Gottshut fuhr, war dieser Traum erklärlich. Denn sie fuhr nach Hause. Zwanzig Jahre, nachdem sie als Oberschülerin ihr Elternhaus verlassen hatte, drückte sie sich immer noch so aus. Sie belächelte sich selbst, blieb aber dabei. Die Eltern hatten ihre Wohnorte gewechselt, die Geschwister waren aus dem Haus, auch die früher üblichen Familientreffen bei den Eltern aufgegeben, da die Geschwisterfamilien zu groß wurden. Trotzdem fuhr Anna weiter nach Hause. Vielleicht hätte sie auf dieser Bezeichnung irgendwann nicht mehr bestanden, wenn die Eltern nicht nach vielen Jahren wieder in jenes Städtchen zurückgekehrt wären, von dem sie einst ausgegangen waren: Gottshut.
Mit Bedacht war von den Gründern vor zweieinhalb Jahrhunderten dieser Name gewählt worden. Unter den Schutz des HERRN befahlen die aus Böhmen und Mähren vertriebenen Evangelischen, die sich noch von dem wegen Ketzerei verbrannten Jan Hus herleiteten, die neu gegründete Freistatt des Glaubens im Sächsischen. Johann Amos Comenius, außerhalb von Gottshut vor allem als Pädagoge bekannt, war der letzte Bischof des alten Bruderbundes der Böhmen und Mähren. Und schon sein Enkel, Oberhofprediger des Alten Fritzen weihte einen der ersten Bischöfe des erneuerten Bruderbundes, zu dem sich die Gottshuter zusammenschlossen. Seit einem Jahrhundert gehörte die Familie von Annas Vater den Gottshutern an. Aber auch der Mutter war Gottshut seit frühester Kindheit vertraut, denn die Ferien verweilte sie bei ihren Großeltern, die sich Gottshut als Ruhestandssitz gewählt hatten. Als Witwe war dann Annas Großmutter nach Gottshut gezogen, um ihre alten Eltern zu pflegen. Im Krieg schließlich kam auch Annas Mutter in das Städtchen.
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