Christoph Heiden
Nacht im Kopf
Kriminalroman
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Daniel Abt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © runamock / photocase.de
ISBN 978-3-8392-6962-6
Anna Majakowski: Sozialarbeiterin, Waise
Willy Urban: ehemaliger Polizist, Witwer
*
Mike: Reinigungskraft, Annas Freund
*
Frank Lewin: Wirt und Ehemann
Erika Lewin: Wirtin und Ehefrau
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Tom Kowalski: Altenpfleger, Patricks großer Bruder
Patrick Kowalski: ungelernt, Toms kleiner Bruder
Mutter Kowalski: verstorben
*
Yvonne Schauder: arbeitslos, Mutter und Ehefrau
Christian Schauder: arbeitslos, Vater und Ehemann
Jimmy Schauder: Schüler, Yvonnes und Christians Sohn
*
Claudia Pfabe: Sachberarbeiterin, Mutter
Liane Pfabe: Schülerin, Claudias Tochter
*
Jannes Krüger: Angestellter bei einer Krankenkasse, Gatte
Lotte Krüger: Hausfrau, Gattin
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Pawel Mitschek: Keramiker, arbeitslos
Bibi: Pawels Katze
August Brehm: Lehrer, Pflanzenfreund
*
Wolfgang Bielecke: Alkoholiker, arbeitslos
René Berkholz: Kuxwinkler
Bruno Vogler: Kuxwinkler
*
Lennart Majakowski: Annas Bruder, verstorben
Eva Urban: Willys Frau, verstorben
*
Mutter Bielecke: Mysterium
ein Nachtwächter: Spukgestalt
Alan Albert Bloch: britischer Drehbuchautor
19. Oktober 2019
15.10 Uhr
Der erste Stein streifte ihr Bein, ganz leicht, sodass sie nicht an Absicht glauben wollte. Sie schaute den Schacht hinauf, aber dort war niemand. Lediglich das Tageslicht hing in der Brunnenöffnung wie der Vollmond an einem schwarzen Himmel. Dann flog ein zweiter Stein hinunter und traf sie direkt im Gesicht. Ihr Kopf knallte gegen die gemauerte Wand und sofort durchfuhr der Schmerz ihren ganzen Körper.
Anna wollte um Hilfe schreien, doch gelang ihr allenfalls ein trockenes Röcheln. Der Schlag, den sie vor dem Sturz in den Brunnen eingesteckt hatte, war genau auf ihrem Kehlkopf gelandet; jetzt fühlte sich ihr Hals an, als versuche sie, eine Billardkugel runterzuwürgen.
Mit beiden Armen schützte sie ihr Gesicht und wagte wieder den Blick nach oben. Nirgends eine Gestalt, weder Mensch noch Tier, nur das kreisrunde Licht. Anna senkte die Arme und seufzte erleichtert, da rieselte eine Ladung spitzer Kieselsteine auf sie herab.
HERZLICHEN GLÜCKWUNSCH
27. September
Dancing Queen
Frank trat durch die Hintertür in die Kneipe, schob den Bierkasten unter die Bar und befüllte den Kühlschrank mit Flaschen. Über dem Tresen lief das Radio. 16 Uhr. Die Nachrichten des Berliner Rundfunks. Während ihm das Grauen aus aller Welt serviert wurde, fragte er sich, ob er auf diesem Planeten noch richtig war. Bürgerkrieg in Syrien, Bürgerkrieg in Jemen. Terroranschläge, korrupte Präsidenten, Brexit ohne Ende. Massenproteste in Hongkong; ungehemmte Waldbrände in Brasilien. Als der Lokalteil folgte, wurde es kaum besser. Frank war dankbar, dass Kuxwinkel für ihn bald der Vergangenheit angehörte. Kein halbes Jahr mehr, sagte er sich, dann wären er und Erika über alle Berge.
Die Bierkästen im Blick, überschlug er die Zahl der erwarteten Gäste. Wenn er pro Kopf sechs Bier berechnete, käme er auf 120 Flaschen, also insgesamt sechs Kästen. Für den Notfall lagerte im Keller eine Kiste »Frankfurter Export«, die er vor Jahren zum Aktionspreis geschossen hatte. Vielleicht waren sechs Bier pro Gast zu hoch kalkuliert, vielleicht traf mit Krügers Geburtstag aber auch der besagte Notfall ein. Derartige Grübeleien ließen ihn den Sinn der Feier anzweifeln, eben nicht anders, als er es gestern oder vorgestern, im Grunde bereits seit dem Tag der Planung getan hatte.
»Soll ich aufschließen?«, rief Erika durch den Raum.
»Muss das sein?« Er berührte seine Schirmmütze.
»Warum denn nicht?«
»Es ist kurz nach vier.«
»Ich dachte ja nur.«
»Willste, dass die Suffköppe schon um sechse dicht sind?«
»Okay, bleibt der Laden halt geschlossen.«
Erika lachte, wie sie in letzter Zeit häufig lachte: scheinbar grundlos und über die Maßen extrovertiert. Sie verrückte einen der Tische, bis er ihres Erachtens genau richtig stand, dann fragte sie Frank nach der Tüte.
»Welche Tüte?«
»Na, die mit den Girlanden.«
Er entdeckte zwei Tüten unterm Tresen, nahm eine davon und schwenkte sie auf Augenhöhe.
»Und die mit den Brillen?«
»Ist auch hier.«
Erika begann, wie ein aufgeregtes Kind in die Hände zu klatschen. Vorigen Monat hatte sie ihr Haar abschneiden lassen; seitdem zwirbelte sie sich zwei winzige Zöpfe, die von ihrem Hinterkopf ragten. Anfänglich hatte er mit dem neuen Look ebenso gefremdelt wie mit ihrem Lachen. Sobald er allerdings begriffen hatte, dass das ihre Art war, den Neuanfang zu begrüßen, hatte er sich damit abgefunden. Er warf ihr die Tüte zu und sagte:
»Ich versteh nicht, weshalb wir so ’n Aufriss machen.«
»Ach, komm. Jannes ist Stammgast.«
»Seinen Likör schmuggelt er trotzdem rein.«
»Das machen die andern auch.«
»Und genau das kotzt mich an, genau das.«
»Frank.« Sie lächelte ihn an. »Das ist die letzte Party.«
Er senkte die Mütze in die Stirn, aber Erika gab sich unbeeindruckt. Sie angelte eine Girlande aus der Tüte, neigte sich über den Tresen und wickelte das eine Ende um einen der Zapfhähne. Die chromfarbene Apparatur diente ohnehin nur der Dekoration; selbst als sie erfahren hatten, dass in der Region ein Werk für Elektroautos, eine sogenannte Gigafactory, entstehen sollte, war die Anlage trocken geblieben. Ein Fass einzukaufen und gekühlt zu lagern, lohnte nicht für eine Handvoll Besucher. Frank besorgte das Bier lieber aus dem Discounter, meist das Schnäppchen der Woche, schlug 50 Cent auf jede Flasche und erduldete die Mitbringsel der Gäste – einen im Anorak versteckten Likör, einen Flachmann hinterm Gürtel oder eine ungeniert unter den Arm geklemmte »Goldkrone«. Respekt erwartete Frank in diesem Kaff von niemandem mehr.
Mit einem Anflug von Sorge sah er Erika leichtfüßig über die Barhocker balancieren. Sie trug ein T-Shirt mit Wendepailletten, die entweder einen silbernen Regenbogen zeigten oder ein goldenes Einhorn. Nachdem sie eine Girlande über der Bar befestigt hatte, blies sie ein paar Luftschlangen in den Raum. Das Papier entrollte sich über raue Sitzflächen, landete auf gesplitterten Dielen, verfing sich im eingestaubten Kronleuchter. Längst war die Kneipe zu einer Art Gemeinderaum verkommen; es fehlte nur ein öffentlicher Anschlag für den Schlüssel.
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