Bielecke führte seine Zigarette zum Fenster. »In Brandenburg ist das Land eben billig.«
»Schön wär’s«, erwiderte Tom. »Die Preise fürs Bauland steigen enorm, und dass unsere Bürokratie jeden Investor abschreckt, ist allgemein bekannt. Fakt ist: Die Amis können es woanders günstiger und vor allem unkomplizierter haben.«
»Aber niemand arbeitet so präzise wie wir.«
»Wer soll das sein? Wir?«
»Na, die Deutschen.«
»Hat dir das dein Opa erzählt? Guck mal in die Fabriken: Polen und Rumänen am Fließband, Inder am Computer.«
Bielecke ließ seine Zigarette über der Fliege kreisen, brachte dem Insekt offenbar mehr Interesse entgegen als den Geheimplänen der Regierung. Tom fühlte sich außerstande, das Thema abzubrechen. »Die Gigafactory und der Flughafen«, erklärte er, »werden binnen zwei Jahren eröffnet.«
»Wird ja auch Zeit.«
»Das müsste dich eigentlich aufhorchen lassen.«
»Warum?«
»Rat mal, wer die Züge fürs Schienennetz baut.«
»Die Amis?«
»Und wer bekommt ein sicheres Plätzchen im Bunker?«
Bielecke hob kommentarlos die Brauen, dann streifte er mit der Zigarettenspitze die Fliege. In voller Absicht. Das Tier entflammte, krabbelte jedoch weiter, bis es von der Fensterscheibe abhob und sich wie ein Partikel glühender Asche im Halbdunkel auflöste. Tom starrte über die anderen Gäste hinweg, suchte ein letztes Anzeichen für den Verbleib der Fliege. Nichts. Nur der Qualm der Zigaretten, das Licht des Kronleuchters, die bunten Girlanden und Hüte, dazwischen Gebrabbel und Gelächter und ein Discohit aus den 70ern.
Da öffnete sich die Eingangstür und sein Bruder kam hereingeschossen, als sei der Teufel hinter ihm her. An seinem Gesicht erkannte Tom, dass er in seinem eigenen Tunnel unterwegs war; unter den eng stehenden Augen schimmerten Patricks Nasenflügel in einem hellen Rot und blähten sich bei jedem Atemzug. Er streckte beide Arme hoch, krakeelte: »Leute, Leute!«, und sämtliche Gäste schauten zu ihm. »Er kommt!«
»Das Geburtstagskind!«, rief Erika aufgeregt. »Alle auf ihre Plätze!«
Vom Tresen dröhnte ein poppiges Geburtstagslied herüber, bis Erika ihren Mann aufforderte, den Song erst anzuschmeißen, wenn Jannes durch die Tür kam. Zusammen mit der Musik verstummte auch das letzte Geflüster, und eine erwartungsvolle Stille erfüllte den Raum. Die Tür öffnete sich, und das Lied erscholl laut und übersteuert, und in der Kneipe erschien August Brehm. Der Lehrer, der Pflanzenfreund. Unter der Musik und dem Raunen der Gäste explodierte Patricks Gelächter.
Yvonne Schauder saß auf ihrem Stammplatz: Christian gegenüber, direkt unter dem Kronleuchter, möglichst entfernt von der Toilette. Sie hatte keine Lust, am Ende des Abends Bielecke beim Reihern zu hören oder Franks Fluchen, sobald er die Bescherung entdeckt hatte; außerdem behielt sie so genügend Abstand zum Fenster, wo die Gebrüder Kowalski unter ihren Papierhüten grimmig dreinschauten. Yvonne ahnte, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis Patrick Kowalski wegen einer Lappalie einen Streit anzettelte.
»Ich hab mit weniger Gästen gerechnet«, bemerkte sie.
»Hallo-o«, murmelte Christian. »Es gibt Freibier.«
»Wer hat das gesagt?«
»Frank höchstpersönlich.«
Ihr Mann umfasste mit einer Hand sein Bierglas, während er mit der anderen sein Smartphone bediente. Seit er sich einen Fußball-Ticker heruntergeladen hatte, hing er ständig am Handy und verglich Tabellen und Punktestände. Die schmerzlichste aller Wahrheiten lautete wohl: Auf der Welt wurde immer irgendwo Fußball gespielt.
»Weißt du, wann Jannes kommt?«
»Keine Ahnung.«
»Habt ihr nicht telefoniert?«
»Ja, und?«
»Hat er nichts gesagt?«
»Ich denke, die Party soll ’ne Überraschung sein?«
»Ist ja kein Grund, ihn nicht vorzuwarnen.«
»Ich will mir Ärger mit seiner Alten ersparen.«
»Seit wann bist du so zimperlich?«
Er schüttelte den Kopf, doch wusste sie nicht, ob es der Frage oder dem Ergebnis eines Spiels geschuldet war. Er trug seine kakifarbene Armeehose und ein Poloshirt, das seine muskulösen Oberarme betonte. Selbst im staubigen Licht des Kronleuchters strahlte sein Gesicht vor Reinheit, als wäre er das 40-Plus-Modell einer Kosmetikfirma. 20 Jahre hatte Christian in einer Autoreparatur malocht, war jeden Tag mit öligen Fingern und Haaren heimgekommen, und jetzt – ein halbes Jahr ohne Job – schloss er sich morgens im Bad ein, um es erst wieder gestriegelt und rasiert zu verlassen. Yvonne hoffte, er würde in der neuen Fabrik eine Anstellung finden, auch wenn ihn E-Autos in etwa genauso ins Schwärmen brachten wie der Abstieg seines Lieblingsvereins.
»Alles in Ordnung mit dir?«
»Klar, was soll denn sein?«
»Ich dachte nur …« Sie stockte. »Ach, egal.«
Sie schielte zum Fenster hinüber, wo die Gebrüder Kowalski beisammenhockten, als heckten sie neue Streiche aus. Ja, musste sie sich eingestehen, Patricks Verarsche war nicht übel gewesen, und ja, die fassungslosen Gesichter der anderen hatten sie amüsiert. Aber das rechtfertigte nicht sein Verhalten, im Gegenteil: In Yvonne nährte es lediglich die Sorge, seine Aktion wäre ein Vorgeschmack auf den Rest des Abends gewesen.
Sie klemmte den rechten Fuß hinter das Stuhlbein und ließ den linken zum Takt von Elton Johns »Tiny Dancer« wippen. Christian saß ihr unverändert gegenüber: ein Bein aufs andere gewinkelt, das Handy stets im Blick. Insgeheim beneidete sie ihn um seine stoische Ruhe. An jedem x-beliebigen Ort gelang es ihm, die Welt auf ein Detail zu verkleinern – ein Fußballspiel, eine Tabelle oder zwei Zahlen, die von einem Doppelpunkt getrennt wurden. Sie leerte ihr Glas und teilte ihm mit, sie würde sich Nachschub besorgen.
Keine Reaktion seinerseits.
»Ich verdrück mich mit Frank aufs Klo.«
»Was ist los?«
»Ach, egal.«
Indem sie demonstrativ zur Bar zeigte, nötigte sie ihm immerhin ein Nicken ab. Dann durchquerte sie, von sanften Gitarrenakkorden begleitet, die Kneipe und rutschte auf einen Barhocker. Frank hielt hinterm Tresen wacker die Stellung. Unter seiner Schirmmütze leuchtete eine rosarote Brille, und während er Knabberzeug in ein Schälchen füllte, lauschte er dem Gespräch einiger Gäste. Erika nahm ihr das leere Glas ab und erkundigte sich, wo sie so lange geblieben sei.
»Ich wollte erst mal ankommen«, rechtfertigte sich Yvonne.
»Und Christian bewacht den Tisch, oder was?«
»Wohl eher sein Smartphone.«
»Frank hasst die Dinger.«
»Ist nicht dein Ernst?«
»Ja, und Tablets auch.«
»Finde ich klasse.«
»Klasse? Vorsintflutlich nenne ich das.«
Erika reichte ihr das randvolle Sektglas und fragte mit Blick auf Christian, ob alles in Ordnung sei. Yvonne wandte sich um und erkannte sofort, was Erika zu der Frage bewogen hatte. Obgleich er nicht aufschaute, waren seine geröteten Wangen und seine gefurchte Stirn unverkennbar, ein Gesicht, das einer zusammengeballten Faust glich. Auch nach 15 Jahren Beziehung samt Haus und Kind waren ihr seine Launen ein Rätsel. Manchmal schlief Yvonne in der Annahme ein, sein Frust habe ihr gegolten, um am nächsten Morgen zu erfahren, dass ihm irgendein Spielergebnis die Laune verdorben hatte.
»Was soll ich sagen«, antwortete Yvonne. »Das Übliche.«
»Fußball?«
»Nachm Aufstehen, vorm Einschlafen, überall. Dem Handy sei Dank.«
»Schon mit handyfreier Zeit versucht?«
»Das würde nur Gezeter geben.«
»Lass es drauf ankommen.«
»Dann hab ich zwei bockige Jungs zu Hause.«
Erika rollte mit den Augen, bevor sie drei Bier aus dem Kühlschrank holte und ein paar Bekannte bediente. Yvonne waren die Männer, die sich um den Tresen geschart hatten, allesamt vertraut: links Bruno Vogler, der Christian die Fußball-App empfohlen hatte; daneben René Berkholz, der während des Gesprächs immer wieder die Zeit fand, den Refrain eines Songs mitzugrölen, und Wolfgang Bielecke, dem garantiert längst das Hausverbot drohte. Inmitten der Gruppe, doch wegen seiner Größe leicht zu übersehen, griente August Brehm, den alle nur den »Lehrer« nannten. Frank neigte sich über den Tresen und fragte ihn:
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