»Und diese Pflanze ist ausgestorben?«
»War«, sagte August. »Bis ich sie gefunden habe.«
»Ist ja unglaublich.«
Der Lehrer lächelte breit. Über einem Karohemd trug er eine Weste, dazu eine abgewetzte Cordhose; an einigen Stellen sträubten sich seine Haare, als wäre er geradewegs aus der Wildnis zur Feier eingekehrt. August Brehm umgab die Aura eines Abenteurers.
»Eine neue Pflanze?«, sagte Frank. »Hier bei uns?«
»Eigentlich eine alte.«
»Bestimmt findest du bald ’nen Dino.«
August lachte und bestellte ein Bier. Yvonne tippte Erika an den Ellbogen, wollte wissen, was da im Gange sei, worauf ihre Freundin ein lässiges Schulterzucken präsentierte.
»Sieht unserem Lehrer gar nicht ähnlich.«
»Was meinst du?«
»Sich so in den Mittelpunkt zu stellen.«
»Tja, jeder hat seine 15 Minuten.«
»Ich hab nicht mal erwartet, dass er kommt.«
»Wieso nicht?«
»Irgendwie passt er hier nicht rein.«
Erika lachte. »Hast wohl ’n Auge auf ihn geworfen?«
Yvonne antwortete, er sei für ihren Geschmack zu weichgespült. »Ich brauch Typen, die anpacken können.«
»So wie deiner?«
Erika nickte über den Tresen hinweg. Unter dem trüben Schein des Kronleuchters glich Christian einem Komiker, der sein Publikum gleich mit zotigen Anekdoten zu amüsieren hoffte. Erika winkte nach ihm, und als er nicht von seinem Handy aufschaute, griff sie aus dem Kühlfach den Wodka und drückte Frank die Flasche an die Brust.
»Hat dein Unkraut auch ’nen Namen?«, fragte René Berkholz.
»Silene tenebre«, sagte der Lehrer ruhig.
»Was?«
»Silene tenebre.«
»Klugscheißen kannste in der Schule«, lachte Bruno Vogler.
»Sorry, bin auf Lebenszeit beurlaubt.«
»Beamter müsste man sein.«
»Silene tenebre bedeutet Dunkelblüte.«
»Dann ist dein Kraut bei uns ja bestens aufgehoben.« Renés Gelächter fand in der Runde ein gehöriges Echo; selbst August stieg mit ein, als könne ihn niemand seines Glückes berauben.
Frank reihte sechs Schnapsgläser aneinander, musterte die Runde und seufzte. Mittlerweile hatte sich um Bielecke, Berkholz und den Lehrer ein Pulk gebildet, und die Faszination für irgendein Pflänzchen übertönte die gesamte Bar, sogar die Musik aus dem Radio kapitulierte vor Renés schrillem Organ.
»Wo haste dein Kraut denn gefunden?«
»Draußen, Heide West.«
»Also auf Lewins Brache?«
»Fast«, erwiderte der Lehrer. »An der Lichtung zum Kiefernwald.«
Frank öffnete den Wodka, füllte die Gläser und verkündete eine Runde aufs Haus. Kaum hatte er ausgesprochen, drängten sich René Berkholz und Wolfgang Bielecke gegen den Tresen.
»Wir reißen uns heute zusammen«, ermahnte Frank den Alten.
»Genau, Wolfgang«, lachte Berkholz.
»Und du auch.«
»Keine Sorge, Chef.«
»Okay, das gilt übrigens für euch alle.«
Ein Raunen, kollektiv und wohlwollend, erfüllte den Raum. Der erste Schluck gebühre dem edlen Spender, rief Erika, und die Meute wandte sich zu Christian um. Yvonne schwankte zwischen der Genugtuung, weil es ihm nun unmöglich war, sich in seine Welt zu verkriechen, und einem Gefühl der Scham. Erika schob eine Hand auf die ihre und blinzelte ihr komplizenhaft zu.
Wider Erwarten erhob sich Christian, und mit jedem Schritt in Richtung Bar schien sich sein Gesicht weiter zu entspannen; schließlich legte der Mann, mit dem sie gemeinsam das Tattoostudio besuchte, der trotz seiner Abneigung für E-Autos einen Job in der Fabrik anstrebte, der bis in den Abend hinein am Haus werkelte, einen Arm um sie. Sie drückte ihm einen Kuss auf den Arm und schob ihm eines der Gläser hin.
In feinster Eintracht wurden die Schnapsgläser gehoben; dann bat Frank erneut darum, dass sich alle zusammenreißen sollten, immerhin feiere man heute einen Geburtstag. »Hey, August«, sagte er heiter. »Da musste dein Kraut aber schnell pflücken, wenn nächstes Jahr der Wald gerodet wird.«
»Ich denke, das hat sich erst mal erledigt«, entgegnete der Lehrer.
»Lass deswegen bloß den Kopf nicht hängen.«
»Frank, er hat von der Fabrik gesprochen«, fuhr Christian ihn an, und Yvonne sah, wie das Gesicht ihres Mannes zur Faust wurde.
Jannes Krüger musste keine hellseherischen Fähigkeiten besitzen, um von der Feier zu erfahren: Seine Frau hatte es ihm auf höchst subtile Weise gesteckt: »Zieh dich bloß ordentlich an«, hatte sie geschimpft. »Schließlich kommen alle nur deinetwegen.«
In seinen Ohren hatte ihre Ankündigung wie ein Schuldspruch geklungen. Seinetwegen betreibe man den ganzen Aufwand, seinetwegen mache sie sich extra schick. Wäre es nach ihm gegangen, dann hätte er seinen Geburtstag lieber vor dem Fernseher verbracht oder auf dem Dachboden zwischen seinen Büchern und Zeitschriften.
»Augen zu«, sagte Lotte vor Lewins Kneipe.
Verstohlen linste Jannes auf die andere Straßenseite. In dem Haus schräg gegenüber wohnte Pawel Mitschek. Mit Sicherheit hockte er hinter der Gardine und beobachtete ihn und seine Frau; zweifellos war er einer der wenigen, die man wohl nicht zur Feier eingeladen hatte. Obwohl er diesen Mitschek kaum kannte, war ihm das Theater mit seiner Frau peinlich.
»Lotte«, protestierte Jannes. »Ich will nicht.«
»Komm, stell dich nicht so an.«
»Ich weiß doch längst Bescheid.«
»Umso besser. Dann kannst du nichts vermasseln.«
Durch die Eingangstür drangen Stimmen und das Gewummer lauter Musik. Garantiert lauerte jemand am Fenster, damit seine Ankunft nicht unbemerkt blieb. Um den Hergang der nächsten Minuten zu erahnen, musste Jannes ebenso wenig Hellsehen können: Er würde mit geschlossenen Augen die Kneipe betreten und aus den Boxen würden irgendwelche Geburtstagslieder dröhnen; die Meute würde mitsingen, lautstark, schief und angetrunken.
Lotte stellte sich hinter ihn, schirmte ihm beide Augen ab, und er dachte an seine stille Dachkammer. Sie probierte, ihm die Augen zuzuhalten und gleichzeitig die Klinke zu drücken, bis sie schließlich aufgab und ihm sagte, er solle selbst die Tür öffnen.
»Tut mir leid, ich seh nichts.«
»Stell dich nicht so an.«
»Zu Befehl«, seufzte Jannes und ertastete blind die Klinke.
Nachdem sie gemeinsam über die Schwelle getippelt waren, er voran, Lotte hinterher, verblasste sein Widerwillen unter dem Gefühl, geradewegs in eine große Peinlichkeit zu schlittern. Im Dunkeln unter Lottes Händen erschienen ihm die Bilder abendlicher TV-Shows: Ein Mann beichtet einer Frau seine Liebe vor laufender Kamera, dazu schmalzige Musik und ein Korb voller Rosen. Oder eine Szene aus »Verstehen Sie Spaß?«, die er nie hatte vergessen können: Ein ahnungsloses Opfer sucht eine öffentliche Toilette auf, um beim Verlassen von einem applaudierenden Publikum begrüßt zu werden. Zunächst hatte ihn die Fremdscham vor dem Fernseher erwischt, dann auf Arbeit, als die Sendung bei den Kolleginnen Thema gewesen war.
Lotte nahm die Hände von seinem Gesicht, doch anders als erwartet empfing ihn weder ein Geburtstagsständchen noch der Jubel der Kuxwinkler, kein »Happy Birthday«, kein »Hoch soll er leben«. Mit Ausnahme der Gebrüder Kowalski belagerten sämtliche Gäste den Tresen. Christian Schauder redete auf jemanden ein, dessen Gestalt von der Runde verdeckt wurde. Zwei Dorfbewohner, die Jannes seit Monaten nicht gesehen hatte, gafften entsetzt wie die Zuschauer eines Unfalls. Einige nuckelten stumm an ihren Bierflaschen, andere gestikulierten wild. Schwerer Zigarettenrauch wälzte sich unter dem Kronleuchter hindurch in den Eingangsbereich und brachte Lottes Augen zum Tränen. Gewiss hatte sie sich den Empfang anders vorgestellt, und als er zwischen den Gästen Erikas besorgtes Gesicht entdeckte, dämmerte ihm, dass etwas aus dem Ruder zu laufen drohte.
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