René Berkholz’ Stimme schallte zu ihm herüber. »Wenn die Naturschützer antanzen, ist alles hin.«
»Leute, Leute«, rief Frank Lewin hinter dem Tresen, »immer mit der Ruhe!«
»Manometer, es geht um unsere Zukunft.«
Erika erklomm einen Hocker und blies so lange in eine Papiertröte, bis die Meute verstummte. »Hey, unser Geburtstagskind ist da.«
Unvermittelt begann Lotte, in die Hände zu klatschen. Jannes’ Mundwinkel sprangen hoch; seine Gesichtsmuskeln wahrten Anstand und Höflichkeit, während sich sein Inneres nach der Dachkammer sehnte. Aus der Anlage lärmte Stevie Wonders »Happy Birthday« und übertönte Lottes Klatschen. Erika und Yvonne Schauder näherten sich ihm, pusteten dabei Luftschlangen umher und präsentierten sich ungeachtet der Situation in Feierlaune.
»Herzlichen Glückwunsch.« Lotte gab ihm einen Kuss und warf eine Handvoll Konfetti über ihn. »Heute ist dein Tag.«
»Noch zwei Jahre!«, brüllte Bielecke. »Dann hast du’s geschafft.«
Der Suffkopf spielte auf seine Rente an. Jannes hatte nie verstanden, weshalb die Leute einem dazu gratulierten, warum sie Dinge sagten wie: Jetzt kannst du endlich machen, was du willst, jetzt fängt das wahre Leben an. Ihm graute vor dem Ruhestand, er wollte weiter seinen Schreibtisch in der AOK-Filiale hüten, wollte fünf Tage die Woche nach Rathenow fahren und mit den Kolleginnen am Kaffeeautomaten schnacken.
»Nur die allerliebsten Glückwünsche, mein Bester.« Erika umarmte ihn und er konnte unter ihrem Parfüm einen Hauch von Schweiß riechen; die Erinnerung, wie er sie vor 30 Jahren am Schwarzen See geküsst hatte, ließ ihn auf Abstand rücken. In der Angst, seine Verlegenheit zu offenbaren, strich er sich das Konfetti aus den Haaren und die Luftschlangen vom Hemd.
»Das habt ihr toll gemacht«, bemerkte er. »Wirklich toll.«
»Bedank dich bei deiner Frau«, entgegnete Erika.
»Das mach ich jeden Tag, immerzu.«
»Schön wär’s«, erwiderte Lotte.
Sie zerrte ihn zum Tresen und sein Lächeln überdauerte die Strecke völlig automatisch. Nachbarn und Bekannte reichten ihm entweder die Hand oder umarmten ihn mit alkoholisierter Innigkeit. Jannes erduldete das alles, und selbst als Erika ihm ein Papierhütchen aufdrängte, schluckte er den Protest hinunter. Frank sagte, er wünsche ihm das ganze Blablabla, schenkte ihm ein breites Grinsen und servierte ihm anschließend ein Bier. Trotz der rosaroten Brille glaubte Jannes, in Franks Augen ein Quäntchen Misstrauen, vielleicht sogar Feindseligkeit zu lesen. Er wich seinem Blick aus und glitt an der Bar entlang, bis er zufällig vor dem Lehrer landete.
»Alles, alles Gute.« August Brehm rieb ihm liebevoll die Schulter. »Für deine Gesundheit und deine Zukunft.«
»Danke, danke.«
»Komm mal vorbei. Ich hab noch ’n paar Astern.«
»Ist es dafür nicht zu spät?«
August lächelte. »Im Herbst pflanzen, im Frühjahr bewundern.«
»Du, Jannes!«, krakeelte René Berkholz dazwischen. »Du bist doch so ’n Paragrafenheini.«
»Kommt drauf an«, erwiderte er.
»Hast du mit Gesetzen zu tun oder nicht?«
»Ja, irgendwie schon.«
»Dann pass mal auf.«
Berkholz stierte ihn auf eine Weise an, die nicht nur ihm, sondern der ganzen Meute die Wichtigkeit der nächsten Frage verdeutlichen sollte. »Also«, begann er, »kann ein Bauvorhaben gestoppt werden, bloß weil man aufm Grundstück ’ne besondere Pflanze findet?«
»Gute Frage.«
»Ist das ’n Ja oder ’n Nein?«
Der Satz war noch nicht verhallt, da spürte er bereits Lottes Finger im Kreuz. Zweifellos wollte sie ihn von dieser Diskussion weglotsen, fort von Berkholz und Bielecke und hin zu ihrer eigenen Sippe, die sich brav an einem Gläschen Likör festhielt. Nein, entschied Jannes. Heute war sein Tag. Diesmal würde er nicht einknicken, und wenn sie ihn schon zu dieser Feier genötigt hatte, sollte sie auch die Konsequenzen tragen.
»1995«, erklärte er, »hat die Großtrappe fast den Bau der ICE-Strecke Berlin–Hannover blockiert.« Er versuchte, sich an den Artikel in der MAZ zu erinnern. »Die Bahn wollte extra einen Tunnel bauen. Für eine Milliarde Euro.«
Das Stöhnen seiner Zuhörer wurde nur von Bieleckes Lachen übertönt; es klang rau und gehässig, und sein gelber Schnauzbart sträubte sich unter seiner Knollennase. Sowie Jannes erneut den Finger seiner Frau im Rücken spürte, fuhr er fort:
»2011 hat ’n Käfer den Bau des Stuttgarter Bahnhofs ausgebremst. Das Projekt lag drei Monate auf Eis.«
»Ein beschissener Käfer?«, fragte Vogler.
»Die Art steht unter Naturschutz.«
»Verdammter Mist.« Frank hatte die rosarote Brille abgelegt, und Jannes registrierte nun ganz deutlich die Feindseligkeit in seinen Augen; jetzt schien sie allerdings jemand anderem zu gelten.
Der Lehrer ergriff das Wort und erklärte den anderen, dass es um ihre Zukunft gehe, um ihre Zukunft und die ihrer Kinder. Darauf blaffte ihn Christian Schauder an, was er denn über ihre Kinder wisse.
Jannes merkte, wie er langsam aus der Runde gedrängt wurde. Alle Hände waren geschüttelt, alle Wünsche übermittelt, und seine Relevanz hatte sich mit dem kleinen Exkurs in Sachen Artenschutz erschöpft. Er verblieb am äußeren Ende der Bar und beobachtete das hektische Auf und Ab der Papierhüte. Als Patrick Kowalski sich zwischen die anderen Gäste schob, packte ihn Lotte am Arm.
»Da will dir jemand gratulieren.« Sie sprach von ihren Verwandten, die gesittet an einem der hinteren Tische saßen.
»Und warum kommt niemand her?«
»Meine Schwester hat’s mit der Hüfte, das weißt du.«
»Ja«, gab er nach. »Ich trink bloß aus.«
»Ich finde, du solltest die Klappe halten«, sagte Patrick Kowalski zu dem Lehrer. »Du gehörst zu denen, die immer alles besser wissen.«
Frank ermahnte ihn, er möge sich bitte mäßigen, worauf er postwendend mit dem Protest der anderen belegt wurde. Er solle Patrick gefälligst reden lassen. Schließlich sei er einer von ihnen und habe genauso wie der Rest ein Recht auf seine Meinung. Die ungeteilte Aufmerksamkeit der Runde setzte Patrick Kowalski offenbar unter Druck; er starrte den Lehrer an, doch in dessen Gesicht zeichnete sich nur ein leises Bedauern ab. Jannes war sich unklar darüber, ob das Bedauern dem Konflikt oder Patricks Einfalt galt. Ganz gleich, für welche Interpretation sich Jannes letztlich entscheiden würde, Patrick hatte längst sein Urteil gefällt. Er streckte seine Hand nach dem Lehrer aus, und Tom – sein älterer Bruder – preschte ungestüm in die Runde.
Wie jeden Abend wollte Pawel es sich auf dem Sofa mit Bibi bequem machen. In einer Aluschale dampfte sein Abendessen: Hähnchen, Klöße, Rotkohl, dazu eine fettige Soße. Um nicht den Müll im TV ertragen zu müssen, hatte er seine Lieblingsserie in den DVD-Player geschoben. »Schock-Geschichten«. Zwölf Episoden voller Grusel, Terror und Leidenschaft. Doch ehe Pawel auf Position war, sah er durchs Fenster den jungen Kowalski zur Kneipe schlendern, was im Hause Mitschek eine kleine Programmänderung zur Folge hatte.
Keine fünf Minuten später schob er die leere Aluschale aufs Fensterbrett und lehnte sich in seinem Sessel zurück. Bibi sprang auf seinen Schoß und sofort spürte er durch die Jogginghose hindurch ihre Krallen. Er kraulte ihr sanft das Köpfchen, bis sie zufrieden schnurrte und sich einrollte. Angesichts seiner massigen Oberschenkel und seines Bauchumfangs wirkte Bibi kaum größer als ein Wollknäuel. »Ich wette«, sagte er zu ihr, »heute wird’s knallen.«
Nachdem 20 Minuten ereignislos verstrichen waren, entschuldigte er sich bei Bibi und schob sie auf die Armlehne. Er hievte sich vom Sessel und schleppte sich durchs Wohnzimmer. Leere Colaflaschen übersäten den Teppich; unter seinen Pantoffeln knirschten Chips- und Haribo-Tüten. Aus dem 5.1.-Soundsystem, das er vor Jahren in einem letzten Kraftakt installiert hatte, surrte spannungsgeladene Musik. Obwohl er die Serie in- und auswendig kannte, stoppte er am Sofa, stützte die Arme auf die Rückenlehne und folgte Judy Geeson über die unheimlichen Moore von Yorkshire. Längst waren ihm die Darsteller alte Bekannte geworden, die Geschichten so vertraut wie achtsam gehütete Familiengeheimnisse.
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