Christoph Werner
Für Elsa
Priscilla rennt durch die Stadt ihrer Kindheit. Die Straßen sind dunkel, still und menschenleer. Schneller! Schneller! Sonst entwischt es! Links eine lange Häuserzeile mit Erkern, Gauben und Giebeln, rechts ihre alte graue Schule, dahinter, schwarz und schweigend, der Park. Wenn es dort hinein läuft, hast du es verloren, Priscilla. Was wird es tun? Wohin wird es rennen? Da, nach links, es klettert an dem Regenrohr die Hauswand hinauf. Priscilla nimmt Anlauf und springt. Sie fliegt durch die Luft und landet auf dem Dach. Über ihr glüht der Mond hinter weißen Wolkenfetzen. Kaum steht sie, sieht sie es auf sich zukommen: schwarzes Fell, kleine weiße Zähne, grüne Augen. Jetzt schaut es sie an. Zu spät. Priscilla packt zu. Sie hält es am Hals, damit es sie nicht beißen kann. Sein kleines Herz pocht wild. Es schaut wütend nach links und rechts. „Lass mich los!“, krächzt es mit tonloser Stimme. „Sofort!“
„Sag mir, was geschehen wird!“, antwortet Priscilla.
„Ich weiß nichts!“ Seine kleinen Pfoten umklammern ihren Arm. „Ich bin kein Orakel, ich weiß nichts.“
„Lüg mich nicht an!“ Priscilla drückt zu. „Sag mir, was geschehen wird!“
Es bleckt die Zähne und versucht, sich zu befreien.
„Willst du wirklich dein Geheimnis mitnehmen?“, fragt Priscilla. „Da wärst du das erste Orakel der Traumwelt. Ich hab noch nie gehört, dass ein Orakel lieber stirbt, als zu sagen, was es weiß.“
„Erst wenn du mich loslässt.“
Priscilla lockert ihren Griff. „Rede!“, flüstert sie.
„Die ungeträumten Träume werden brennen“, krächzt das Orakel, „und nichts wird sein, wie es war …“
Drei Dinge hasste Marie Marne besonders: ein Match zu verlieren, sich nicht entscheiden zu können und Hannes, wenn er am Vater-Tochter-Tag keine Zeit für sie hatte. Seit zehn Minuten telefonierte er jetzt. Marie tippte mit dem Finger auf ihre Armbanduhr. Er zuckte mit den Schultern und sprach weiter. Verdammt, wie lange denn noch? Eigentlich hatten sie ins Kino gehen wollen. Das taten sie meistens am Vater-Tochter-Tag. Aber jetzt hatten alle Filme schon angefangen und statt vor dem Kino standen sie vor einer ADI-Filiale. Ein Auto hupte. An der Ampel drängten sich die Fußgänger. Obwohl sie noch auf Rot stand, rannten ein paar über die Straße, die hier den Boulevard zerschnitt.
„Papa!“, drängelte Marie. Endlich steckte er das Handy in die Jacketttasche.
„Tut mir leid, Liebes“, sagte er und lächelte. „Es war wichtig, sonst wäre ich nicht rangegangen.“
„Ich bin auch wichtig“, sagte Marie.
Hannes stöhnte. „Schatz …“
„Ich bin nicht dein Schatz.“
„Es dauert eine halbe Stunde“, sagte er, „vielleicht vierzig Minuten, dann tun wir, was immer du willst.“ Er streichelte ihr über die Schulter.
„Ich wollte ins Kino“, sagte Marie leise.
„Es gibt zur Zeit keinen Film mit guter Filmmusik“, antwortete er.
„Dann suchen wir den Film mal ausnahmsweise nicht nach der Musik aus.“ Marie kickte einen Stein weg, der vor ihr auf dem Fußweg lag.
„Jetzt mach es mir doch nicht so schwer.“ In Hannes’ Stimme schwang Verärgerung. „Meinen Geburtstag und der Termin am Dienstag, ohne den ADI-Traum schaffe ich das nicht. Wenn du willst, gehen wir danach shoppen.“
„Was?!“ Marie hob den Kopf. Hannes wollte sie kaufen, das war vielleicht das vierte Ding, das sie hasste, aber sie hasste es nicht an ihm, sondern an sich selbst. „Auf wessen Kosten?“, fragte sie.
„Na, auf wessen Kosten wohl? Auf meine natürlich.“
Ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht. „Also gut“, sagte sie.
„Oh nein, nein, nein, so kommst du mir nicht davon.“ Hannes tippte sich mit dem Finger auf die Wange. „Ich will einen Kuss, und du musst sagen: Toll, Papa, das ist viel besser als Kino.“
Marie ging langsam auf Hannes zu. Er beugte sich zu ihr hinunter und sie küsste ihn kurz auf die Wange. „Toll, Papa, das ist viel besser als Kino“, flüsterte sie, „Shoppen ohne Limit.“ Damit drehte sie sich um und lehnte sich neben der Eingangstür an die Wand der ADI-Filiale.
„Ohne Limit?“, rief ihr Vater. „Davon war nie die Rede.“
„Ich kann dich nicht hören“, sagte sie, „der Verkehr ist so laut.“ Hannes lachte. „Kommst du mit rein?“, fragte er.
Sie schüttelte den Kopf. Wenn sie draußen wartete, zwang ihn das, sich zu beeilen. Wenn sie mit reinging, konnte er sich Zeit lassen.
„Bitte“, bettelte er.
„Keine Chance“, antwortete sie.
Er stöhnte und ging allein. Marie blieb einen Moment stehen. Vor der Filiale einer Bank spielte ein bärtiger Mann Akkordeon. Es hörte sich erbärmlich an. Eine Frau zerrte ein weinendes Kind hinter sich her. Dann gab die Ampelschleuse wieder einen Menschenstrom frei. Marie drehte sich um und schaute sich die Schaufenster der ADI-Filiale an. Auf dem linken stand:
„Was Sie nicht verschlafen sollten:
Hochzeitsreisen
Urlaub
Wichtige Geschäftsreisen
College-Prüfungen
Die ersten Tage Ihres Kindes
Runde Geburtstage
Momente, in denen es auf Sie ankommt
Oder einfach Ihr Leben
Schlafen Sie nicht, wenn Sie müde sind, schlafen Sie,
wenn Sie Lust dazu haben!
All Day Industries – wir machen Träume wahr.“
Die Tür der Filiale öffnete sich und ein junger Mann schaute heraus. „Mitarbeiter in Ausbildung“ stand auf einem Schildchen am Revers seines dunkelblauen Anzuges.
„Hallo“, sagte er. „Ich heiße Jonas, bist du Marie?“
Marie nickte.
„Dein Vater schickt mich, ich soll dir die Zeit vertreiben.“ Er lächelte.
Marie sah ihn verdutzt an. Er war hübsch: jung, sportlich, blaue Augen, ein kleiner silberner Stecker im Ohr. Wie alt mochte er sein? Siebzehn? Als Dreizehnjährige hatte sie keine Ahnung, wie sie mit einem Siebzehnjährigen reden sollte. Sie kannte einfach nicht genügend siebzehnjährige Jungs, um das zu wissen. Genau genommen kannte sie überhaupt keinen siebzehnjährigen Jungen.
„Ich komme schon zurecht“, sagte sie leise.
„Dann warte ich hier mit dir“, antwortete Jonas. Er steckte sich eine Zigarette an.
„Warst du schon mal bei uns?“, fragte er und zeigte auf die Tür der ADI-Filiale.
Marie schüttelte den Kopf. „Nein, man darf doch erst mit achtzehn einen ADI-Traum haben“, sagte sie.
„Ich dachte, du hast deinen Vater vielleicht mal begleitet.“ Jonas blies geräuschvoll Rauch aus.
Dass er rauchte, imponierte Marie kein bisschen.
„Warum muss man eigentlich warten, bis man achtzehn ist?“, fragte sie, weil sie nicht wusste, was sie sonst hätte fragen sollen.
„Ein paar Kinder haben sich Wachheit gekauft“, antwortete Jonas, „ohne dass ihre Eltern es wussten. Sie sind nachts um die Häuser gezogen, während Mama und Papa schliefen. Das alles wäre nicht so schlimm gewesen, wenn unter den schlafenden Erziehungsberechtigten nicht ein Senator gewesen wäre. Er hat dafür gesorgt, dass All Day Industries die Geschäftsbedingungen ändern musste.“
„Aha“, sagt Marie.
Sie schwiegen. Was hatte sich Hannes nur dabei gedacht, ihr diesen Jonas herauszuschicken? Ein Krankenwagen mit Blaulicht und Sirene raste vorbei. Marie hielt sich die Ohren zu. Als es wieder still war und die Pause unerträglich zu werden drohte, fragte sie: „Was macht mein Vater eigentlich gerade da drin?“
„Er liegt in einer Schlafkabine und schläft“, antwortete ADI-Jonas.
„Er schläft, um wach zu bleiben?“ Marie zog die Augenbrauen hoch.
„Ich habe ihm eine Schlafbrille aufgesetzt“, sagte Jonas und streifte die Asche seiner Zigarette ab. „Mit Hilfe dieser Brille hat er einen besonderen Traum, einen ADI-Traum. Wenn er dann aufwacht, wird er dreizehn Tage lang munter sein. Das ist sein ADI-Wert, dreizehn Tage.“
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