„Und stimmt es“, fragte Marie, „dass man dort nachts die seltsamsten Leute trifft? Papa hat das immer erzählt.“
„Naja, sie waren nicht seltsamer als ich, würde ich sagen.“ Onkel Paul lachte noch einmal. „Einer hat mir erzählt, dass er seit 90 Tagen nicht geschlafen hat, weil er auf diese Weise seine Lebenszeit verlängern will. Keine Ahnung, ob das stimmt. Auf jeden Fall lässt man ziemlich viel Geld in diesen ADI-Lounges. Ich glaube, wenn man regelmäßig längere Zeit wach ist, kann Wachsein eine sehr kostspielige Angelegenheit sein.“
„Und weiter?“, fragte Marie.
„Was weiter?“
„Du hast gesagt, anfangs war es toll. Das heißt, später dann nicht mehr. Warum nicht?“
Onkel Paul schwieg einen Moment und sah Regine an. Er nahm noch einen Keks und kaute gedankenversunken darauf herum. „Wenn man nicht schläft, hat man sehr viel Zeit, sich Sorgen zu machen“, sagte er. „Die Sache mit Hannes hat mich nicht losgelassen. Ich habe gegrübelt und gegrübelt. Ich konnte nichts dagegen tun. Am Schluss habe ich das Ende meiner Wachzeit wirklich herbeigesehnt.“
„Also war es nicht so toll?“, fragte Marie.
„Nicht so richtig“, sagte Onkel Paul.
Sie schwiegen einen Moment. Marie fragte sich, wie es wäre, 113 Tage wach zu sein. Das war mehr als ein Vierteljahr. Nach dem, was Onkel Paul erzählt hatte, würde es für sie wahrscheinlich die Hölle sein. Sie rührte selbstvergessen in ihrem Tee. Plötzlich schoss ihr ein Gedanke durch den Kopf. Als sie neben ihrem Vater geschlafen hatte, welchen Traum hatte sie da geträumt? War sie in seinem Traum gewesen oder er in ihrem? Und warum hatte Mr. Phisto darauf bestanden, dass sie in die Klinik kam? Warum hatte sie nicht zu Hause von ihrem Vater träumen können? Hatte das alles mit der Schlafenergie und ihrem hohen ADI-Wert zu tun? Sie musterte Onkel Paul. Von Berufs wegen wusste er vieles, und wenn er etwas nicht wusste, dann kannte er jemanden, der es wusste. Genau diese Tatsache wollte sie sich zunutze machen.
Als Regine in die Küche ging, um Milch zu holen, fragte Marie ihren Onkel: „Kennst du jemanden, der etwas über Träume weiß?“
„Nein, warum?“
„Schule“, log Marie, „das ist eine Aufgabe für die Schule.“
„Bis wann brauchst du es denn?“
„So schnell wie möglich.“
„Morgen habe ich Frühdienst. Ruf mich bis mittags um zwölf an, dann sage ich dir, wer der größte Traumspezialist der Stadt ist.“
So war Onkel Paul: Er stellte nicht tausend Fragen, suchte nicht tausend Ausflüchte, er lächelte kurz und dann tat er, was getan werden musste. Deshalb liebte Marie ihn so sehr.
Als er gegangen war, trugen Marie und Regine das Geschirr aus dem Garten in die Küche, ohne ein Wort miteinander zu sprechen. Als sie aber das Geschirr abgestellt hatte, nahm Regine Marie in den Arm und sagte, sie wären alle im Moment ein bisschen durcheinander, dann küsste sie Marie auf die Stirn. Marie umarmte ihre Mutter und hielt sie fest. Dann ging sie in ihr Zimmer, ließ sich aufs Bett fallen und schlief sofort ein.
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