Marie jedoch kümmerte sich nicht um solche Details. Sie versuchte, Herrn Rinke möglichst nicht zu begegnen, und wenn sie an ihm vorbei musste, dann grüßte sie ihn. Anders als Jelena aber bemerkte sie nicht, dass er nie zurückgrüßte. Es war ihr egal, Jelena jedoch regte sich jedes Mal darüber auf.
Als Marie an diesem Montagmorgen in den Klassenraum kam, sagte Hanna kein Wort. „Was ist los?“, fragte Marie. Keine Antwort. „Na los, nun sag schon!“
„Nichts ist los“, antwortete Hanna und tat so, als suche sie etwas. „Ich rede nicht mehr mit der und mit allen, mit denen sie verkehrt.“ Hanna warf Jelena einen wütenden Blick zu.
„Was soll das heißen?“, fragte Marie.
„Lass mich einfach in Ruhe“, antwortete Hanna. Marie ging zu Jelena, konnte jedoch nicht herausfinden, worüber sich die beiden gestritten hatten. Der Streit zog sich den ganzen Tag hin, so sehr Marie sich auch bemühte, ihn zu schlichten. Nichts nervte sie mehr als Krieg zwischen ihren beiden besten Freundinnen.
Es war ein anstrengender, ein langweiliger, ein heißer Montag. Marie fühlte sich wieder einmal fremd in der Schule, fremd selbst zwischen ihren besten Freundinnen.
Deshalb war sie froh, als die Schule endlich vorbei war und sie über den Schulhof ein paar Straßen weiter in den Stadtpark zu ihrer Tennisanlage laufen konnte. Ihr Spind, die Duschen, die Tennisschuhe, Schweißband, Schläger, Bälle: Hier war ihre Welt, hier gehörte sie hin, hier fühlte sie sich sicher. Hier verstand sie, was vor sich ging. Dieses Spiel, für das man Technik, Ausdauer, Einfühlungsvermögen, Strategie und Kampfgeist benötigte, liebte Marie. Niemand hatte sie dazu überreden müssen, ihre Mutter nicht und nicht ihr Vater. Sie spielten beide nicht, sie verstanden nichts davon. Eines Tages hatte Marie ein paar Probestunden genommen, seitdem war es um sie geschehen. Allein auf dem Platz zu stehen und in Sekunden zu reagieren, Entscheidungen zu treffen, ihre Gegnerin einzuschätzen, vorauszusehen, was sie als Nächstes tun würde, und selbst etwas zu planen, was nicht vorhersehbar war, das gefiel ihr. Die Regeln standen fest, es gab einen Schiedsrichter und bei größeren Turnieren Linienrichter, die im Zweifelsfall entschieden. Alles war festgelegt und doch gab es innerhalb dieser Regeln unendlich viele Möglichkeiten zu gewinnen oder zu verlieren.
Es war heiß, die Sonne stand hoch, Marie trainierte ein wenig an der Ballwand. Ihr Körper jubelte, als sie den ersten Ball traf. Jeder Muskel, jede Sehne, jede Faser ihres Körpers jubelte, denn, weil es gestern kein Punktspiel gegeben hatte, hatte Marie am Wochenende nicht gespielt. Und dann kam er: Herr Ritter, ehemaliger Profispieler, Platz 81 der Weltrangliste, aber nie ein großes Turnier gewonnen. Eigentlich trainierte er nur die ältere Jugend, aber bei Marie machte er eine Ausnahme. Er redete nicht viel, versuchte nie, nett zu sein oder sich einzufühlen, so wie ihre frühere Trainerin Dunja. Er hatte oft schlechte Laune, dann jagte er Marie über den Platz und schimpfte mit ihr, wenn sie die Rückhand nicht mit genügend Topspin spielte oder am Netz nicht traf. Komischerweise mochte Marie ihn trotzdem. Oder gerade deshalb. Heute winkte er ihr nur kurz zu und zeigte auf einen der Plätze. Sie schlugen ein paar lange Bälle. Marie merkte sofort, dass er schlechte Laune hatte. Er donnerte einen ihrer Bälle so hart zurück, dass ihr fast der Schläger aus der Hand fiel. Dann winkte er sie ans Netz.
„Du hattest gestern kein Match?“, fragte er.
Marie schüttelte den Kopf. „Dann werden wir das heute nachholen. Für jedes Spiel, das du gewinnst, gibt es fünfzehn Minuten gratis Training. Für vier gewonnene Spiele also eine Gratistrainingsstunde. Okay?“
„Okay“, sagt Marie. Sie merkte, dass ihr die Begegnung mit Mr. Phisto, der Besuch im Krankenhaus und der heutige Schultag im Körper saßen und im Kopf, sie musste spielen, um all das loszuwerden.
Herr Ritter schlug auf und begann das Match mit einem Ass. Egal, Marie merkte, wie ihr Kampfgeist erwachte. Natürlich hatte sie gegen diesen Gegner keine Chance, aber gerade das machte sie frei. Schon ihr erstes Aufschlagspiel brachte sie durch. Sie ließ sich nicht einschüchtern. Ihr gelangen ein paar gute Passierschläge, als Herr Ritter ans Netz lief, und sogar ein paar Lobs. Dann, nach einem harten ersten Aufschlag, lief sie selbst ans Netz und schloss mit einem Volley ab. Sie merkte, dass Herr Ritter anfing, vorsichtiger zu spielen. Er gewann den ersten Satz mit sechs zu drei. Marie hatte ihm eine Dreiviertelstunde Gratistraining abgezwungen.
Sie trank Wasser, wischte ihr Griffband ab, lächelte und machte sich an den zweiten Satz. Herr Ritter spielte jetzt ein aggressives Grundlinienspiel. Er jagte sie hin und her, vor und zurück und machte sie so müde. Seine Beine waren doppelt so dick wie ihre, seine Arme auch. Er hatte einfach mehr Ausdauer. Und doch gab Marie nicht auf. Sie lief nach jedem Ball, sie verausgabte sich völlig. Sie brachte Herrn Ritter an den Rand der Verzweiflung, als sie zweimal hintereinander einen superkurzen Stoppball erlief.
Da draußen war die Stadt, da war ihr Vater, gefangen in einem Traum, da war ihre aus der Bahn geworfene Mutter, da war Mr. Phisto, von dem man nicht wissen konnte, was er wirklich wollte, ob er Freund oder Feind war. Aber hier, hier auf diesem umzäunten Feld, hier funktionierte Marie, hier gehorchte ihr Körper ihren Befehlen, hier sah sie voraus, wohin der Ball fliegen würde, hier konnte sie Richtung und Geschwindigkeit bestimmen. Herr Ritter fing zu fluchen an und schlug einmal sogar mit dem Schläger auf das Netz.
Er gewann den zweiten Satz knapp mit sechs zu vier. Fast zwei Stunden musste er Marie jetzt umsonst trainieren. Sie gratulierte ihm mit zitternden Händen und ging in die Umkleidekabine. Ihre Füße brannten, als sie die Schuhe auszog. Unter der Dusche liefen ihr ein paar Tränen übers Gesicht. Sie beachtete sie nicht. Das kam manchmal vor, wenn sie sich so verausgabt hatte. Dann vergoss sie ein paar Tränen, und erst danach fühlte sie sich leer, aber zufrieden.
In der Straßenbahn spürte sie die Erschöpfung, die sich langsam in ihrem Körper ausbreitete. Die Stirn an die Fensterscheibe gelehnt, sah sie die neben der Straßenbahn herfahrenden Autos, wie Fischschwärme, die einem Schiff folgten.
Zu Hause sah sie Onkel Pauls Auto in der Auffahrt. Sie lief in den Garten, da saß er und unterhielt sich mit ihrer Mutter. Er redete schneller und lauter als sonst. Seit Hannes in der Klinik war, kam er oft vorbei. Aber er wusste nicht, wie er Regine helfen konnte. Er hatte keine Frau und keine Kinder. Es ist alles meine Schuld, hatte er einmal gesagt, aber Regine hatte nur den Kopf geschüttelt. Nachdem Marie ihn umarmt und geküsst hatte, fragte sie: „Wie geht es dir?“
„Ich habe heute Nacht nach elf Tagen wieder geschlafen“, antwortete Onkel Paul. „Ich hatte mir vor Hannes’ Geburtstag das erste Mal auch einen ADI-Traum gekauft.“
„Ach ja?“ Marie nahm einen Keks und dachte an Mr. Phisto und den Traum ihres Vaters. „Wie war es, so lange wach zu sein?“, fragte sie mit vollem Mund.
Onkel Paul trank einen Schluck Kaffee. Er sah sie an und wiegte den Kopf hin und her. „Anfangs war es toll. Ich habe mich jung gefühlt, jung und unbesiegbar. Ich konnte telefonieren, arbeiten, reden, organisieren, alles, was ich gerne mache. Ich bin die ganze Zeit im Hotel gewesen.“ Er lachte und trank wieder Kaffee.
„Und dann?“, fragte Marie.
„Nach etwa 40 Stunden ist mir das erste Mal schwindelig geworden. Natürlich wusste ich, dass man Pausen machen muss, dass man sich massieren lassen oder meditieren kann und so weiter. Ich habe vorher alles darüber gelesen, es steht ja auch überall, aber ich hatte es trotzdem vergessen. Man achtet einfach nicht mehr auf die Zeit. Ich bin also los. Es war mitten in der Nacht. In einer ADI-Lounge habe ich mich massieren lassen und ein heißes Bad genommen und all das. Danach ging es mir wieder gut.“
Читать дальше