Frank bat Erika, vorsichtig zu sein, und während sie seine Sorge mit einem Lachen abtat, kniete er sich hinter den Tresen. Er öffnete erneut den Kühlschrank und zählte ein weiteres Mal die Bierflaschen. Kaum klüger als zuvor, drückte er die Tür zu, und sein Blick blieb an dem mit Magneten befestigten Foto haften. Erika und er gegen den Tresen gelehnt, sie in einer verwaschenen, viel zu weiten Jeans, er mit einem rot-weißen Tuch auf dem Kopf. Sie waren beide um die 30, also sehr jung, oder zumindest das, was er heute mit Ende 50 als jung empfand. Sein Vater hatte dieses Bild geknipst, im »Schlecker« entwickeln lassen und ihnen zur Eröffnung der Kneipe geschenkt. Mittlerweile war die Drogeriekette Geschichte, und Filme hatte Frank seit Ewigkeiten nicht mehr zum Entwickeln eingetütet. Eines der wenigen Dinge, die sich seit damals nicht geändert hatten, war seine Vorliebe für Kopfbedeckungen. Die Tweedmütze, die er aktuell trug, hatte ihm Erika auf einer Englandreise geschenkt. Er berührte den Stoff, dachte an die weiß getünchten Fassaden in Cornwall, an die Klippen von Land’s End und daran, wie die heftigen Böen Erikas Haar zerzaust hatten, sehnte sich nach Steinwällen, Torfgeruch und Pale Ale, und schließlich zwang ihn die Sorge, dass Erika sich trotz – oder gerade wegen – ihrer Unbekümmertheit wehtun könnte, zum Aufstehen.
»Was machst du denn hier?«
»Ich wollt einen trinken«, entgegnete Bielecke. Er lehnte am Tresen, die Augen erwartungsvoll auf Frank gerichtet, und verströmte eine Fahne, als hätte er seinen morgendlichen Kaffee bereits mit Goldkrone veredelt.
»Und wie biste hier reingekommen?«
»Na durch den Schornstein.«
»Deine Witze kannste dir sparen.«
»Ich bin durch die Tür geschneit, mein Lieber.«
»Die ist abgeschlossen.«
»Aber nicht die Hintertür.«
»Hast du nicht das Schild gesehn?«
»Welches Schild?«
»Das an der Tür«, sagte Frank ruhig. »Da steht Privat drauf.« Er wiederholte das vorletzte Wort, betonte dabei jede Silbe laut und deutlich: »PRI-VAT.«
»Aber mich kennste doch.«
»Privat bedeutet Erika und meine Wenigkeit, kapiert?«
Bielecke imitierte mit der Hand einen Vorhang, den er hochzog, um darauf eine Grimasse gespielter Trauer zu offenbaren. Die lebenslange Qualmerei hatte aus seinem Schnauzer einen vergilbten Besen gemacht, eine Hautkrankheit aus seiner Nase ein wucherndes Gewächs. Bielecke behielt die Grimasse bei und erwartete eine Reaktion, vielleicht ein Lächeln oder wenigstens ein lässiges Abwinken.
Frank war dieses Theaters überdrüssig. Er quittierte Bieleckes Bemühungen lediglich mit einem Fingerzeig zur Hintertür. »Wir öffnen Punkt 17 Uhr.«
»Is ja bald.«
»Bald heißt nicht jetzt, kapiert?«
Frank bäumte sich hinter dem Tresen auf, wobei eine Girlande sein Gesicht streifte. Aus einem Impuls heraus wollte er sie runterreißen, besann sich jedoch eines Besseren und stützte die Ellbogen auf die Theke. »Hör zu, Bielecke. Hier bekommst du nichts.«
»Und nachher?«
»Wenn du nicht abschwirrst, nie mehr.«
»Soll das ’n Hausverbot sein?«
Frank zögerte.
»Hallo, Wolfgang!«, rief Erika und kletterte von einem der hinteren Tische herunter. »Nix los zu Hause?« Sie schlenderte zum Tresen und klopfte auf einen Barhocker, als würde sie einen Hund anlocken wollen. Mit einem schiefen Grinsen dackelte Bielecke zu ihr und fingerte dabei eine Schachtel Kippen aus der Hose.
»Kannste vergessen«, protestierte Frank.
»Eine einzige, mein Lieber.«
»Wage es nicht.«
»Die anderen dürfen auch rauchen.«
»Die anderen, die anderen«, wiederholte Frank genervt. »Siehst du hier irgendwelche anderen Gäste?«
»Pscht, das ist mein absolutes Lieblingslied.«
»Was? ›Dancing Queen‹?«
»Ja, schon immer.«
»Und deshalb gilt das Rauchverbot nicht für dich?«
»Okay«, sagte Erika sanft, »ausnahmsweise.« Sie bugsierte einen Aschenbecher zwischen sich und Bielecke und steckte sich selbst eine Zigarette an. Frank knautschte den Schirm seiner Mütze und seufzte. Auf Erikas Frage, wie es ihm gehe, antwortete Bielecke mit dem abgeschmackten Witz von den zwei Fliegen auf dem Weg zur Hölle. Erika bog sich vor Lachen, während Frank es bei einem Kopfschütteln beließ.
Noch eine Stunde, bis sie den Laden öffneten; das hieß gleichfalls eine Stunde mit Bieleckes Weisheiten. Es kostete ihn schon Mühe, die abendliche Feier kommentarlos hinzunehmen, das ganze Tamtam, das Erika und Krügers Frau veranstalteten. Seinetwegen hätten sie die Feier mit einer billigen Ausrede abblasen können; aber für Erika war es wohl mehr als ein schnöder Geburtstag. Es war ihr Goodbye zu den Freunden und Nachbarn, der ganzen Meute und auch zu einer Landplage namens Bielecke.
Mit einem Knurren zog Frank eine Flasche »Lübzer« aus dem Kühlschrank und schob sie ihm hin. Bielecke bedankte sich in gespieltem Eifer und langte zu. Seine Fingernägel machten den Eindruck, als wären sie sein Lebtag von schweren Hufen malträtiert worden. Frank war ein solcher Anblick nicht fremd: Sein Vater hatte auf der LPG »Märker Land Gollwitz« gearbeitet, höchstens 20 Fahrminuten von hier, und dessen Fußnägel waren vom Getrampel der Kühe einen halben Zentimeter dick gewesen. Grauer, scharfkantiger Schiefer, bei dem selbst robuste Nagelscheren versagten. Bielecke, der seit Urzeiten an der Flasche hing, hatte garantiert noch nie einen Stall von innen gesehen. Woher ausgerechnet der solche Schippen hatte, war Frank ein Rätsel.
Erika jedenfalls schien sich mit ihm bestens zu unterhalten.
Frank warf ein, er wolle kurz in den Keller. »Werkzeug holen.«
»Wozu das denn?«, fragte sie ihn.
»Der Zapfhahn ist verstopft.«
»Wir lassen die Anlage eh aus.«
Er rollte mit den Augen. »Du weißt schon, der Zapfhahn.«
»Ihr stecht ein Fass an?«, fuhr Bielecke dazwischen. »Und mir serviert ihr diese Plörre?«
Frank krallte seine Finger in die Mütze und wünschte sich auf die Klippen von Land’s End. Er verließ die Kneipe, und sowie er die Hintertür von draußen schloss, stellte er fest, dass dort tatsächlich kein Schild hing. Es lag, keine zwei Meter entfernt, im Dreck.
I Wanna Dance With Somebody
Als Erika nach der Tüte mit den Papierhütchen und den Spaßbrillen griff, schenkte ihr Frank einen seiner vier Gesichtsausdrücke; in diesem Moment lautete die Botschaft schlichtweg: Muss das sein?
Ja, es musste, gab sie ihm mit einem Lächeln zu verstehen. Sie zerrte den Packen aus der Tüte, und die Farben der Hüte und Brillen waren genauso verblasst wie die der Girlanden und Luftschlangen. Mehr darf die Meute eben nicht erwarten, dachte Erika. Immerhin hatte sie sich allein um die Dekoration kümmern müssen. Sie faltete einen goldfarbenen Hut auseinander, schob ihn sich auf den Kopf und lächelte breit in die Runde.
»Mach mal lauter!«, rief René Berkholz, der sich ungeniert als Fan von Whitney Houston präsentierte.
Eine Gruppe Mittvierziger hatte sich an einen Tisch gepflanzt und der Berliner Rundfunk versorgte sie unentwegt mit einem Mix aus Geschwätz und Oldies. In den Anfangstagen der Kneipe hatten Erika die Rod Stewarts dieser Welt kaum berührt, hatte sie weder einer Tina Turner noch einem Chris Rea, weder einer Kim Carnes noch einem Phil Collins etwas abgewinnen können. Für sie war die Musik lediglich Teil des Geschäfts gewesen – die Gäste tranken mehr, wenn sie in Nostalgie versanken. Warum sollte sie einer Vergangenheit nachtrauern, die nur in den Köpfen der Leute existierte? Weshalb sich nach einem Ort sehnen, den es ohnehin nicht gab und nie gegeben hatte? Um diese Sehnsucht zu verstehen, hatte es 24 Jahre Ehe und ein Leben in Kuxwinkel gebraucht.
Sie trat hinter den Tresen, ignorierte Franks genervten Blick und stellte das Radio lauter. Dann klatschte sie im Takt von »I Wanna Dance With Somebody« in die Hände, bis sie den Zuspruch der Gäste registrierte. Sie sei einfach die Beste, grölte René Berkholz und hob den Daumen. Frank, der unablässig die Bierflaschen zählte, sagte:
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