Obwohl Anna nur die ersten Jahre ihrer Kindheit in Gottshut verbracht hatte, die Eltern waren bald ins Mansfeldische gegangen, zog es sie immer wieder dahin zurück. Viel stärker als ihre jüngeren Geschwister erfasste Anna, dass die Eltern in dem Dorf nicht heimisch wurden, das die erste Pfarrstelle des Vaters war. Gottshut ist die Heimat unserer Väter, hatte der Vater damals Anna erklärt und in ihr das Empfinden für das geweckt, was sie Diaspora nannten, Zerstreuung. Die Familie lebte in der Zerstreuung. Ein Schicksal, das sie mit vielen Gottshutern gemein hatte. Aber sie blieben Gottshuter, ihre Kinder wurden im Geist von Gottshut erzogen.
Freunde wussten von Annas Herkunft. Im Kollegenkreis allerdings erwähnte sie nie den Namen des Ortes. Die Gottshuter waren zwar nur wenigen, meist Älteren, bekannt. Doch diesen wenigen verriet sie sich als eine, die aus einer anderen Welt kam, womöglich aus einer anderen Zeit, in der Gott noch im Mittelpunkt des Geschehens stand. Und man sollte Anna nicht auf Zeichen ihres Andersseins hin beobachten oder gar belächeln.
Selten fuhr Anna zu den Eltern. Und dann meist nur für zwei Tage. Dieses eine Mal jedoch hatte sie sich zu einem längeren Bleiben entschlossen. Noch haben wir eine Kammer für Gäste, hatte die Mutter geschrieben. Du wirst ganz ungestört sein. Der Umzug der Eltern aus der geräumigen Amtswohnung in eine kleinere Alterswohnung stand bevor. Zudem wollte der Vater eine seiner längeren Evangelisationsreisen antreten, sodass Anna - seit wie viel Jahren zum ersten Mal - allein mit der Mutter wäre. Das hatte wohl den Ausschlag gegeben.
Anna hatte sich entschieden, erst den Mittagszug am Sonntag zu nehmen. Bei ihrer Ankunft wären die Besucher des Vaters aus dem Haus. Die Geschwister, wie sich die Gottshuter anredeten, die dem Vater, schien Anna, näher als die eigene Tochter waren und zwischen denen sich Anna als Fremde im eigenen Elternhaus fühlte, obwohl man sie als Älteste des Predigers und als Redakteurin, deren Name hin und wieder in einer Kulturzeitschrift stand, mit größter Hochachtung behandelte. Anna beklagte sich nicht, war sie doch in diesem Geist aufgewachsen, in dem rigoros nach den biblischen Gesetzen gelebt wurde und in dem die Familie - der Gottshuter Missionstradition zufolge - einen untergeordneten Platz zugewiesen bekam, anders als in den übrigen evangelischen Pfarrhäusern. Noch in der elterlichen Generation war es das übliche Schicksal des Missionarskindes, früh von seinen Eltern getrennt in den Internaten Gottshuter Prägung herangezogen zu werden und die über Tausende Kilometer entfernt lebenden Eltern erst nach Jahren wiederzusehen. Wer Vater oder Mutter mehr liebt denn mi c h , der ist mein ni c ht wert, und wer Sohn oder To c hter mehr liebt denn mich , der ist mein nicht wert. Textstellen wie diese aus dem Matthäusevangelium waren Anna nur zu geläufig. Da sie die Gemeinschaft der Gläubigen verlassen hatte, musste sie auch eine Entfremdung von den Eltern und ihren Geschwistern hinnehmen. In letzter Zeit, nachdem eine Schwester Annas dem Elternhaus überraschend den Rücken gekehrt hatte, vollzog sich jedoch ein Wandel. Gerade war Anna im Werben um die Familie müde geworden, schrieb kaum noch. Als ahne die Mutter, dass Anna im Begriff war, sich zu lösen, streckte sie ihr die Hand entgegen. Nach so vielen Jahren, in denen Anna umsonst auf ein Zeichen der Mutter gewartet hatte. Ablehnung konnte sie noch ertragen. Aber sie brachte es nicht fertig, jemanden zurückzustoßen, der ihr freundlich begegnete. Was vorher gewesen war, es war vergessen oder spielte wenigstens keine Rolle mehr.
Wie die Orte auch hießen, in die Anna zu den Eltern reiste, immer benutzte sie den gleichen alten Bahnhof, der nicht in das Bild einer Großstadt passen wollte. Auf dem einen Gleis des Fernbahnsteiges kamen die Züge an, auf dem anderen fuhren sie in Richtung Süden und Südwesten ab. In gleichmäßiger Folge liefen auf den Bahnsteigen der Stadtbahn die ockerroten niedrigen Züge ein und aus. Der gewohnte Anblick der abgeschrägten Teerdächer, von deren Holzunterbau rußgeränderte Farbteilchen blätterten. Sie wurden von gusseisernen Säulen getragen, die Pflanzenornamente an den Kapitellen schmückten. Je näher die Abfahrt des Zuges rückte, um so mehr Menschen versammelten sich. In Annas Nähe ein Elternpaar mit zwei halbwüchsigen Töchtern. In den wenigen Sätzen, die die Familie miteinander austauschte, hörte Anna die ihr so vertraute Tönung der Sprache. Vielleicht ein Rest Schlesisch, und vielleicht hatte auch das slawisch gefärbte weiche Deutsch des kleinen Sorbenvolkes im Zweisprachengebiet Einfluss genommen. Noch immer übte diese Art zu sprechen eine große Wirkung auf Anna aus. Die Mädchen unterschieden sich in nichts von den supermodern und teuer gekleideten Töchtern der Stadt. Selbst in ihrer Erschöpfung genossen sie ihr Spiegelbild in der Schwester, zupften aneinander herum, warfen die Köpfe, als streife sie ein leichter Wind, sodass die Ohrgehänge in den langen gelockten Haaren wippten. Anna sagte sich, dass sie schon ihre eigenen Töchter sein könnten, obwohl sie das Ehepaar einer anderen Generation als der ihren zurechnete. Es hatte offensichtlich schon ganz seinen eigenen Anspruch an das Leben aufgegeben und schien mehr durch die Kinder als für sich selbst zu leben. So anspruchslos war es gekleidet und achtete nur auf die Kinder. Unglaublich jung kam sich Anna neben diesem Ehepaar vor. Und doch gehörte sie, im ersten Nachkriegsjahr geboren, inzwischen schon zur mittleren Generation. In wenigen Jahren würde sie vierzig.
Im Zug hatte sie ein Abteil für sich, sodass sie sich nach Belieben ausstrecken konnte. Lange blieb die Gegend flach und sandig. In der Nähe eines Kohlekraftwerkes befiel sie schmerzhafte Langeweile und überhaupt eine Reiseunlust, die sie schon kannte. Immer auf der Fahrt zu den Eltern stellte sie sich ein, mal stärker, mal schwächer. Wann hatte sich die Vorfreude verloren, diese fiebernde, fast kindliche Erwartung, nach Hause zu kommen?
Wie glücklich war sie gewesen, als der Vater nach beinahe eineinhalb Jahrzehnten Dienst als Prediger in der Anhaltischen Landeskirche zurückberufen wurde in eine Gemeinde des Gottshuter Bruderbundes. Kaum hatte sie die Eltern an ihrem neuen Wirkungsort begrüßt, als sie sich schon in das nahe gelegene Gottshut aufmachte. Unvergessen blieb ihr der Einzug, den sie damals in das Städtchen hielt. Zwanzigjährig, barfuß, in Jeans und Kutte, die kurzen Haare triefend nass vom Regen, so war sie von einem Motorrad gestiegen - immer fuhr sie per Anhalter - und durch Gottshut gezogen. Nacheinander besuchte sie alle nahen Freunde der Familie. Mit einem Mal überkam sie ein Gefühl, das sie nie zuvor gehabt hatte: Sie war heimgekehrt. Nun, da ihr Vater ein Prediger der Gottshuter war, hatte auch sie eine Heimstatt gefunden. Hier waren ihre Wurzeln. Und es bedeutete gar nichts, dass sie schon als Siebenjährige aus Gottshut fortgezogen war. Sie hatte die Leute, die ihr begegneten, auffordernd angesehen. Sie war doch Anna Herrlich, die Tochter des Predigers Herrlich, die Enkelin des Brüderhofvorstehers Herrlich, die Enkelin von Schwester Gertraud Kröger, die lange hier gelebt hatten, und die Urenkelin des Superintendenten Schlemmin, der die vielen Jahre seines Ruhestands in Gottshut verbrachte und von dem die Älteren sicher noch wussten. Anna hatte gemeint, man müsse sie erkennen, sie brauche sich nur ein wenig mehr anzustrengen. Gelänge es ihr, die freundlich abwesenden Blicke der Gottshuter auf sich zu lenken, würden deren Augen bestimmt aufleuchten. Ah, das ist doch … Dann hatte sie sich ein anderes Spiel ersonnen. Sie bildete sich ein, unter einer Tarnkappe verborgen, durch Gottshut zu gehen, genoss, dass die Leute durch sie hindurchsahen, während Anna sie unverschämt genau mustern und ihre Namen sagen konnte. Die Gottshuter ahnten nichts von Annas Genugtuung. Und wenn, sie hätten ihre Gesichter nicht vor Anna verstecken können. Sie waren ihnen schon vor Annas Geburt für ein ganzes Leben mitgegeben und Anna dadurch für immer bekannt.
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