Beate Morgenstern - Der gewaltige Herr Natasian

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Sieben Jahre sind es her, seit Ralja am 11. September 2001 ein letztes Lebenszeichen nach Deutschland schickte. Es war eine Ansichtskarte vom World Trade Center. Die vereinbarte Zeit des Schweigens ist abgelaufen. Nun darf erzählt werden, wie ihre verhängnisvolle Geschichte an einem Juniabend 1989 im Club der Kulturschaffenden Berlin-Mitte begann, als sie sich mit Schriftstellerkollegen zum Stammtisch traf und die Kulturschaffenden in die Fänge des gewaltigen Herrn Natasian gerieten. Die Begegnung bleibt nicht ohne Folgen. Nicht für die Dreizehn und möglicherweise auch nicht für die inzwischen längst vergangene deutsche Kleinrepublik, die sich Sozialistische Räterepublik Nemezien nannte. Der Roman ist eine Verbeugung vor dem Dichter von «Meister und Margarita» Michail Bulgakow.

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Beate Morgenstern

Der gewaltige Herr Natasian

Eine Burleske aus deutscher Wendezeit

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Inhaltsverzeichnis

Titel Beate Morgenstern Der gewaltige Herr Natasian Eine Burleske aus deutscher Wendezeit Dieses ebook wurde erstellt bei

Einführung

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Impressum neobooks

Einführung

Erklärung: Sieben Jahre sind vergangen, seit mich Walja Kunze im Sommer 2001 aufsuchte und mir tage- und nächtelang ihre Geschichte erzählte und ich mir auf ihren ausdrücklichen Wunsch alles notierte. Ihr selbst, die das Schreiben als Beruf hatte wie ich, war es verwehrt, sich auf diesem Wege von ihrer Vergangenheit zu lösen. Oft habe sie versucht, aufzuschreiben, was ihr seit dem abendlichen Gang zum Club der Kulturschaffenden in Ostberlin im Juni 1989 widerfahren sei, sagte sie mir. Doch jedes Mal habe sie ihre Erinnerung so heftig überfallen, dass sie meinte, sich immer noch im Kreis der zwölf Kollegen im CdK zu befinden. Keine Hand habe sie rühren können, sobald sie dachte, ihre Erlebnisse niederzuschreiben, sagte sie. Dass Walja nach elf Jahren aus den Staaten nach Deutschland zurückkehrte, diente offenbar einzig und allein dem Zweck, ihre Geschichte loszuwerden. Wir jüngeren Autoren im Verband kannten uns alle irgendwie, wie überhaupt die Nemezen, ob turingischen, sächsischen, brandenburgischen oder mecklenburgischen Stammes. Warum Walja mich ausgesucht hatte, war mir zunächst nicht deutlich, da ich in Zeiten der SRR Nemezien jede ihrer Annäherungen unfreundlich und sehr bestimmt abgewehrt hatte. Die Antwort hat mit ihrer Geschichte zu tun, weshalb ich sie nicht vorwegnehmen möchte. Walja wirkte sehr gehetzt, angespannt. Ihr eigentlich rundes Gesicht noch abgezehrter als in jungen Jahren, sodass ich annahm, sie ernähre sich ausschließlich von Äpfeln und Brokkolis, womit ich nicht ganz falsch lag.

Walja hat mir aufgetragen, erst dann ihren von mir verfassten Bericht der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, wenn ich nach Jahren immer noch keine neue Nachricht von ihr habe. Nach wie vielen Jahren genau?, fragte ich nach, um ja keinen Fehler zu begehen. Sieben, sagte sie. Sieben ist eine schöne Zahl. Das fand ich auch.

Nun also ist es Zeit, einen Verlag zu suchen, der die Aufzeichnungen druckt. Ob ich ihn finde, liegt nicht in meiner Hand. In diesem Fall bin ich froh, dass ich alles Weitere dem Schicksal überlassen kann.

Zu Beginn der Handlung befinden wir uns im Juni des Jahres 89 in der Sozialistischen Räterepublik Nemezien, die wir milde spottend Ständig Ratlose Republik Nemezien oder Siegreiche Rentner Regieren Nemezien oder auch bissig Sowjetrussisch Regiertes Nemezien nannten. Stärkere Spottnamen spare ich aus. Ich beteilige mich nicht an dem Spiel, das da heißt, tote Riesen oder Zwerge zu treten. Auch bestätigt uns westliche Geschichtsschreibung zur Genüge, dass wir in einem Satellitenstaat der inzwischen ebenfalls untergegangenen UdSSR lebten. Wir selbst haben immer versucht, uns vom großen Bruder abzugrenzen, und uns einfach als Nemezen gesehen, mit einem durch den Krieg bedingten Sonderschicksal bedachte ostdeutsche Stämme.

Hier nun, was ich nach Waljas Erzählungen niederschrieb:

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Blitze, Fieberkurven zu kurz, das Auge zu blenden, durchzuckten den schwarzblauen Stadthimmel, von fernem Donner gefolgt. Über Irminhilds finsteres Gesicht glitt ein Lächeln. Er muss zeigen, dass er der Allergrößte ist. Glauben wir es ihm, Walja. Oder? Ihre Stimme dunkel, grollend. Der Anflug eines herben Chemnitzer Sächsisch tat das Seine dazu.

Und ich hab keinen Schirm mit!, piepste Walja in einem Sächsisch aus lieblicherer Gegend. Bei besserer Stimmausstattung wäre ein Singen herausgekommen. Die beiden in Berlin-Mitte, was eigentlich Berlin-Ende hätte heißen müssen, denn an der Grenze des Stadtbezirks begann die Selbständige Einheit Westberlin, die - je nach Standpunkt - nicht oder doch zu Deutschland gehörte.

Sie waren von der Friedrichstraße in die nach Otto Nitschke umbenannte Straße abgebogen, vorher und nachher Jägerstraße. (Otto Nitschke Mitbegründer der Berliner Christdemokratischen Partei und nach Ausrufung der nemezischen Republik stellvertretender Ministerpräsident.) Die Straße kurz, dafür unverhältnismäßig breit, stieß bald auf die mächtige Mauerstraße, die wie ein vorweggenommenes antifaschistisches Bollwerk auch einige andere Querstraßen in Richtung Brandenburger Tor abschnitt. In dieser Gegend graue ineinandergeschobene Steinmassive. Natur kommt nur bei Gewitter, niederstürzendem Regen oder Schneestürmen vor, welche in manchen Menschen ein gewisses Wohlgefühl verursachen. Von eben jenem Wohlgefühl befallen, schritt Irminhild in einem langen indischen Gewand auf der Otto-Nitschke-Straße. Wenn sich kein anderer Blick als der von Walja an ihre hohe, schlanke Gestalt heftete, an ihr finster-rätselhaftes Gesicht, umgeben von einer kleinlockigen schwarzen, bis zu den Schultern reichenden Haarpracht, die ihr Haupt an breitester Stelle verdreifachte, so nur deshalb, weil sich zu der Zeit keine weitere Menschenseele auf der Straße aufhielt. Neben ihr hüpfte die blonde, kleinere Walja. Deren Blick nun allerdings atemlos auf Irminhild gerichtet, als könnte ihr etwas entgehen, geriete ihr die eine Sekunde aus den Augen.

Irminhild eine internationale Größe in der Literarturlandschaft.

Wochen verbrachte sie bei italienischen Freunden. In diesen Ländern, auch im benachbarten Deutschland, geliebt, verehrt. Während sie im eigenen Land, in der SRR Nemezien, um Anerkennung ringen musste. Mit ihren schwergewichtigen Wälzern über Windeln, Hexen und Walpurgisnächte, über weibliche Emanzipation, stellte sie eine Herausforderung an das Fassungsvermögen unserer Menschen dar und an die Toleranz ihres Verlegers, eines gewissen Kaspar Borz, der sonst immer auf der Seite der schreibenden Zunft stand. Vielleicht ertrug er literarische Großmacht in Paarung mit weiblicher Schönheit nicht. Die alte Dame der Literatur, schon lange auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof ruhend, hatte Borz jedoch verehrt wie fast alle seiner Generation, die das Gewerbe betrieben. Der nemezischen Enkelgeneration war die alte Dame leider durch schulische Pflichtlektüre verleidet. Wie sich Kaspar Borz gegenüber Christa T., der anderen weiblichen Großmacht verhielt, die nicht nur im Ausland, sondern auch in Nemezien selbst geliebt und hochverehrt wurde, ist mir nicht bekannt, ebenso wenig, wie das Verhältnis von Irminhild zu Christa T. war. Ich nehme an, ihre Bahnen berührten sich nicht. Objekt von Anbetung beide. Die Schar um Christa T. dauerhaft und groß. Anders verhielt es sich bei Irminhild. Möglicherweise ließ sie Nähe nur zeitweise zu.

Ich habe darüber nachgedacht, warum Irminhild sich Walja nicht vom Leibe hielt, sondern zeitweise mit ihr befreundet war, sie sogar in ihre große Neubauwohnung am Tierpark einlud, wo Irminhild mit ihrem inzwischen schon flügge werdenden Sohn lebte. Ich vermute, das Mädchen brachte in ihrer naiven sprudelnd munteren Lebendigkeit ein wenig Licht in Irminhilds düsteres Gemüt, von dem ich eine Anschauung habe. Ich kann nicht sagen, wie lange Irminhilds Depression schon währte, ob sie zu ihrem Wesen gehörte oder sich mit der Erkenntnis des unaufhörlichen Niedergangs der nemezischen Kleinrepublik einstellte. Ich lernte Irminhild erst Anfang der 80er Jahre besser kennen, hatte sie allerdings bis dahin schon öfter bei den Donnerstagclubabenden des Verlags gesehen, die regelmäßig im Winter stattfanden, zu denen schon genannter Kaspar Borz einlud. Auch sie kannte mich von Gesicht und Namen her, sonst hätte sie mich bei den Kulturtagen 1980 in Prag, damals CSSR, nicht angesprochen, wo sie mir wohlwollend gegenübertrat, mich zu meiner Überraschung duzte, wie dies später auch Christa T. ohne Weiteres tat. Die vertraute Anrede untereinander war vielleicht einer Tradition des in den zwanziger oder dreißiger Jahren gegründeten Bundes Proletarischer Schriftsteller geschuldet. Irminhild fand damals in Prag meine Unterbringung in einem Dreibettzimmer völlig indiskutabel. Es sei bekannt, dass Schriftsteller unter Schlafstörungen litten. Zwei Jahre später überfielen sie mich. Ich wurde sie nie wieder los. Wenn ich heute zu den vergessenen Autoren des untergegangenen Landes zähle, die nicht mehr veröffentlichen, dennoch weiter schreiben, so könnte ich auf diese Schlafstörung als Beleg für meine Professionalität verweisen.

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