So geschädigt bin ich allerdings noch nicht.
Walja ein Küken. Geschoren ihr hellblondes Haar, kurze Schnabelnase. Von fieberhafter Neugier getrieben, sprang sie durch diese und jene Betten und allem und jedem hinterher mit wasserblauen weit aufgerissenen Augen und kleinem, ebenfalls aufgerissenem Mund, ihre Kollegen gegebenenfalls bis auf die Herrentoilette verfolgend.
Ihr voller Name lautete Walentina. Ihre Mutter hatte sie nach der ersten Kosmonautin Walentina Wladimirowa Tereschkowa benannt, die vom 16. bis 19. Juni 1963 in der Wostok 6 die Erde umkreiste. (Eigentlich war der Name Yvonne vorgesehen.) Walja hatte ein paar hübsche Gedichte verfasst und eine ordentliche literarische Reportage über das Kombinat Schwarze Pumpe in der Lausitz, wobei die Sage ging, sie habe ihre Recherchen sehr gründlich betrieben und das Intimleben einzelner Arbeiterpersönlichkeiten nicht geschont. Walja literarischer Nachwuchs, eine der jüngsten unter den zahlreichen jungen und noch jungen Frauen, die Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts ihren Ingenieur- oder sonst einen Beruf an den Nagel hängten und zur Feder griffen nach dem Motto "Greif zur Feder, Kumpeline!".
Irminhild und Walja waren zum Stammtisch unterwegs. Fast am Ende der Otto-Nitschke-Straße machten sie vor einem Gebäude Halt, das gegenüber den anderen durch seine bombastische Neubarockfassade auffiel. Da eben kündigte sich nach vorausgegangener großer Stille das Gewitter an.
Der Stammtisch eine lose Runde um Paule Berlin und Karlheinz Karge, die im Club der Kulturschaffenden, dem früheren Herrenclub, ihre Tage verbrachten. Ab dem frühen Mittag traf man mindestens auf einen der beiden Herren im Restaurant des Hauses am Ende der Straße und, wie mir schien, am Ende der Welt. Selbst wenn sich zu Lesungen, Ausstellungen einmal eine große Gesellschaft von Leuten im Haus aufhielten, stellte sich bei mir ein Gefühl von Leere ein. Hatte es mit der Höhe der Wände zu tun, mit der Breite der Treppen, auf denen man bequem zu sechst hätte nebeneinander herlaufen können, mit der Dunkelheit, die in diesem Haus auch wegen der Holzpaneele herrschte? Oder war es das Bewusstsein der unmittelbaren Nachbarschaft zur Mauer, die uns vor Gefahren schützte, die wir nicht kannten. Ich jedenfalls hatte kaum eine Ahnung, was sich hinter der Mauer verbarg, sodass ich mir eine weite, wüste Fläche vorstellte. Selbst das die Mauer überragende Springer-Hochhaus und die mir bekannte Tatsache, dass in der Besonderen Einheit Millionen Menschen und einige davon sogar in größtem Luxus lebten, konnte mir diese Vorstellung nicht nehmen. Unter den älteren Kollegen gab es genug, die mit einem ständigen Passierschein versehen waren oder mit einem österreichischen Pass oder gar mit einem aus Exilzeiten stammenden australischen oder vorzogen, staatenlos zu bleiben. Denen war die Mauer durchlässig. Doch sie erwähnten höchstens einmal, sie hätten in einer Bibliothek der Besonderen Einheit ein paar Tage verbracht. Paule Berlin allerdings hüllte sich selbst darüber in Schweigen. Er liebte es, im Stillen zu wirken.
Paule übrigens war es, der Walja am Stammtisch eingeführt hatte, wo sie Irminhild näher kennenlernte. Paule Berlin ging mit seinem reichen Talent extrem sparsam um. Manche sagten, er vergeude es. Sparsamkeit eben nicht immer eine Tugend. Einige schmale Gedichtbändchen machten sein ganzes Lebenswerk aus. Das sei mein Vermächtnis ein scharfes Gedächtnis ... ,die Gedichtzeile ist mir in Erinnerung. Durch das Salär, das ihm als Mitglied der Akademie der Künste zustand, hatte er sein Auskommen. Paule ein zierlicher Mann mit reichlichem, schmutzig-grauem Haar. Sah er jemanden an, geriet schnell ein listiges Funkeln in seine grauen kleinen Augen, ein Zwinkern. Die Brille saß weit vorn auf der leicht gebogenen, schmalen Nase und hatte keine weitere Bedeutung für ihn. Las er, meist hatte er eine in- oder ausländische Zeitung vor sich auf dem Tisch, dann mit zusammengekniffenen Augen und unter Zuhilfenahme einer Lupe. Er mochte keinen Augenarzt konsultieren, ebenso wenig einen Zahnarzt, wahrscheinlich überhaupt keinen Arzt, was besagen könnte, dass Paule im Grunde ein misstrauischer Mensch war. Vom Argwohn gegen Zahnärzte zeugten seine Zähne, Stummel nur noch, braun vom Zigarillorauchen. Hatte Paule mal keine Zeitung vor sich, legte er Patiencen. An Stätten, wo ihm das aus Platzmangel versagt blieb, vertrieb er sich die Zeit des Zuhörens mit ornamentalen mehrfarbigen Filzstiftzeichnungen. Labyrinthische, nicht enden wollende Schlangenlinien zierten am Ende das Papier. Obwohl von geringem künstlerischem Wert erlangten sie im Kollegenkreis und unter den uns betreuenden Personen des Verbandes Berühmtheit. Paule war auf Vorgänge, Ausgänge aus, mischte sich - immer hinter den Kulissen - kräftig ein, denn Paule war eine Spielernatur. Und als solche hatte er auch einen Nerv für das Übersinnliche, veranstaltete mit denen, die er dazu verführen konnte, kleine Spiele, die vorgebliche Geheimnisse offenbar werden ließen, las aus der Hand, aus Karten, nickte bedeutsam, wenn sich dieses und jenes fügte. Ich glaube, er selbst nahm das, was er trieb, nicht ernst. Oder doch? War er nicht im Club oder nicht zwischen Schriftstellerverband und dem Zentralkomitee der Einheitspartei oder sonst wohin unterwegs, um etwas zu regeln, in Gang zu setzen, saß er am Radio, hörte ausländische Sender, selbstverständlich bundesrepublikanisch deutsche, aber auch französische, englische. Das Französische ihm so geläufig wie das in Nemezien gesprochene Deutsch. Englisch beherrschte er, deucht mich, weniger gut. Paule von Nachrichten besessen. Höhepunkte für ihn internationale Tagungen, wo man ihn aber keinesfalls in der nemezischen Delegation fand, die eher ängstlich beieinanderblieb. Paule tauchte weg und erst am Flughafen wieder auf. Er hatte Freunde weltweit. Dass er sich ausgerechnet in Nemezien aufhielt, war sein freier Entschluss, Aus der offiziellen politischen Arbeit hatte er sich zurückgezogen. Doch ließ er sich sowieso in keinem Gremium denken, zumindest in keinem, in dem Arbeit zur Pflicht gemacht wurde, Paule Berlin tat, was ihm einfiel, aber niemals, wozu er angehalten wurde.
Übrigens, der kleine Paule und Irminhild, schön, geheimnisvoll, von hohem Wuchs und zudem viel jünger, waren einmal ein Paar gewesen! Dass Irminhild und Paule nach der Trennung den Stammtisch nicht mieden, erstaunte und bewies die Hochherzigkeit beider Naturen.
Karlheinz Karge war derjenige, der fast so oft wie Paule im Club anzutreffen war. An ihm belächelte vor allem Berta Watersloh, die Älteste in der Stammtischrunde, seine Jeanskluft, die damals nur bei Jugendlichen üblich war. Karge ein in die Jahre gekommener jungenhafter Typ. Bitternis hatte tiefe Furchen in sein rechteckiges Gesicht gegraben, in der eine auffallende ebenfalls rechteckige Brille mit schwarzem Gestell saß. Seine kräftigen Haare immer noch dunkel, kurz gehalten, gescheitelt. Berta Watersloh spottete über Karge in der Meinung, er hinge einem Jugendwahn an, was man nicht von der Hand weisen konnte. Denn sein Erfolgsstück hatte er blutjung in den Fünfzigern oder frühen Sechzigern geschrieben. So mochte er seiner Jugendzeit nachtrauern, in der er erfolgreich gewesen war. Bis zum Ende Nemeziens war das Stück bekannt und mit seinem Namen verbunden. Ob es zu der Zeit allerdings auch gespielt wurde, entzieht sich meiner Kenntnis. Karges weiteren Stücken hingegen war der Erfolg oder die Billigung durch die Oberen versagt. Karge ernährte sich hauptsächlich von Theaterkritiken für die Zeitung Das Neue Nemezien. In den Nächten schrieb er bisweilen wie im Fieberwahn viele Seiten an Romanen, Stücken, die er meist tags darauf zerriss. Seine Lieblingsbeschäftigung außerdem, so verriet er Walja: Im Grünauer Strandbad einen Kahn mieten und sich in der Sonne stundenlang auf dem Wasser treiben lassen. Seine Haut vertrage es, hatte er dem verwunderten Blondchen versichert.
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