Na, na, sagte Paule, der seine Ehemalige mit sichtlichem Wohlgefallen betrachtete, wobei sein vergnüglicher Blick auch Walja streifte, das Küken, das sich an Irminhilds Seite hielt.
Paule hatte die siebzig längst überschritten. Was man wissen musste. Man sah es nicht.
Kopfhoch, Junge!, sagte Irminhild. Sie entstammte einer Eisenbahnerfamilie und erinnerte sich mitunter einfacher Floskeln.
Kopf hoch! Du bleibst für mich übrigens immer dreiunddreißig! Peter Heil lächelte wieder bezaubernd. Alle Strenge war dahin. Sein eigenartiges Gesicht verschönte sich und blieb es für jede Frau, auf die dieses Lächeln einmal gefallen war. Neben seinem Charme, seiner überragenden Intelligenz nahm für ihn ein, dass er sein kleines sprachliches Gebrechen missachtete und ungehemmt das Wort ergriff, wenn es ihm angezeigt erschien, obwohl er mitunter stockte, mitten im Satz Luft holen oder sich jedenfalls stark auf die Artikulation des nächsten Wortes konzentrieren musste. (Teilnahme an zahlreichen öffentlichen Debatten während und nach der Wende merzten das Gebrechen zur Gänze aus.)
Walja ließ wieder ihren kleinen Mund offen stehen vor Aufregung und Freude über so viel Anwesenheit mehr oder weniger bedeutender Persönlichkeiten. Nachdem Irminhild Peter Heil genügend gratuliert hatte, ergriff Walja dessen Rechte, umfasste sie mit beiden Händen, wie sie sich das in Pumpe angewöhnt hatte. Peter Heil sah freundlich auf das Küken. Mehrere Male zuckte sein Mund. Er unterdrückte allzu große Heiterkeit. Als einer der seltenen Menschenfreunde nahm er die Geringen unter seinen Brüdern und Schwestern vom Spott aus. Walja ging nun zum Angriff auf die übrigen Personen über, streckte ihre Hand zunächst dem eloquenten Axel Harder entgegen. In dessen schmalem Adlernasen-Gesicht erschien ein berückendes Lächeln, wobei eine seitliche Zahnlücke sichtbar wurde, die er aus unerfindlichen Gründen nie reparieren ließ. Seine buschigen Augenbrauen hoben sich. Axel Harder, obwohl auf die sechzig zugehend, hatte noch immer braunes, volles Haar, was er wie Karlheinz Karge gescheitelt und kurz geschnitten trug. Durch einen Wirbel stand es ihm an der Stirn wie zu einem verstümmelten Hahnenschwanz auf Er hatte tadellose Manieren und zur Abwehr wie aus gegenteiligen Gründen immer dieses ganz berückende Lächeln bereit. Mit unschuldigster Miene übersah er die Hand des Kükens. Der kleinwüchsige Federico Grosse, der Spanier in der Runde, lächelte aus großen blausamtenen Augen, räusperte sich, bedeutete mit einer Geste, er müsse ja aufstehen, um ihr die Hand zu reichen, was ihm auf seinem Sofaplatz erhebliche Mühe machen würde. Seine Beweglichkeit seit einigen Jahren eingeschränkt. Beim Gehen kam er ohne Krücken nicht mehr aus. Als dann aber auch Paule Berlin mit den Augen blitzte und blinzelte, verstand Walja wieder einmal, dass man in dieser Runde von kumpelhafter Begrüßung, wie sie es von Pumpe gewohnt war, nichts hielt. Noch immer stand Ottilie, wies Irminhild mit eifriger Miene den für sie frei gehaltenen Platz auf dem Sessel der am Gang gelegenen Stirnseite der Tafel zu. Irminhilds entferntes Gegenüber, mit dem sie sich nur bei vollkommener Stimmenthaltung der Übrigen hätte verständigen können, der Dramatiker Karge. Er an der Stirnseite der Tafel unter dem Fenster. Paules Platz neben ihm auf dem Sofa mit Sicht auf den Raum. Ihm gegenüber und Karge zur Seite der Dramatiker des Heiteren, Gunter Scherzer. Die drei hatten sich gesetzt, wie sie es gewohnt waren. Um sie gruppierte man sich lose oder auch von Ottilie gelenkt. Federico hatte neben Paule auf dem Sofa Platz genommen. Ottilie legte ihren rechten Zeigefinger gegen ihre schmalen Lippen und ihr spitzeckiges Kinn. Die Sofaseite gegen den Raum hin belegt von Gunter Scherzer, vom Intendanten Peter Heil. Axel Harder, Chefredakteur der Monatszeitschrift von der Akademie der Künste Sinn und Wahn, hatte Ottilie an die Seite des Jubilars verwiesen und neben ihm die Sawatzky. Harder und die Sawatzky hockten sowieso immer nebeneinander. Ottilie sah es mit leichter Eifersucht. Die Trennung des Paars wäre aber mit dem Verlust vom Eckplatz Ottiliens nunmehr an der linken Seite der verehrten Kollegin Irminhild verbunden gewesen. Für den Jubilar konnte man sich übrigens außer der Sawatzky keinen passenderen Gesprächspartner denken als Axel Harder. (Dass zur Rechten des Jubilars auch der junge Schulz hätte sitzen können statt Gunter Scherzer, war Ottilie vielleicht in den Sinn gekommen. Doch Cliquenbildungen suchte sie vorzubeugen.) Kein freier Platz für Walja, wohin Ottilie auch schaute. Irgendetwas war ihr entgangen. Sie hätte Kerschbaumer doch nicht einladen sollen! Ottilie rieb mit ihrem rechten Zeigefinger ihr Kinn. Du müsstest dir vielleicht doch einen Stuhl holen!, sagte sie. Doch Walja sah: der junge Schulz schmächtig, der Dichter Kerschbaumer, Federico und Paule Leichtgewichte, Berta durch das Alter leicht geschmälert. Kurzentschlossen setzte sie sich auf einer Pobacke neben Sebastian Schulz, den jungen Lyriker und Satiriker, worauf der rückte, worauf Kerschbaumer rückte, und so ging es fort. Am Ende hatte das Küken Walja einen mehr als komfortablen Platz an der rechten Seite Irminhilds, was Ottilie sicher mit einem kleinen Neidauge sah, was sie aber leicht zu verbergen in der Lage war.
Mit den Bestellungen haben wir auf euch gewartet! Ottilie flötete. Nun, da sie alle ihre Schäflein beisammenhatte, kannte ihre gute Laune keine Grenzen.
Es brauchte nicht einmal ihres Winks. Lothar, der Kellner, hatte den Stammtisch immer im Auge. Ein Mann von faunischem Aussehen. Sein Glatzkopf stets gerötet wie auch sein Gesicht und vollkommen rund wie übrigens auch die Nase, seine kleinen schrägliegenden Augen blitzten vor Freude, sein Bauch vorgewölbt, seine Beine neigten einem kräftigen O hin. Seine Knie verbraucht. Dennoch behände und geradezu bewegungssüchtig. An einem so interessierten Kellner hätte jede gastronomische Einrichtung Nemeziens ihre Freude gehabt, deren Angestellten nachgesagt wurde, sie ließen sich in ihrer Ruhe ungern stören. Nicht einmal die Aussicht auf ein hohes Trinkgeld habe sie zu einem Entgegenkommen und einer dem Gast angenehmen Miene verlocken können. Anders der springlebendige Lothar, der einschätzte, seine Dienste seien nun erwünscht. Hinkend wegen seines Knieleidens eilte er herbei und blickte mit großer Aufmerksamkeit und einem durch und durch freundlichen Lächeln von einem zum anderen. Leber? Erst einmal eine Soljanka und dann Leber? Rumpsteak? Szegediner Gulasch? Filet Stroganoff? Schopska-Salat und dann Cevapcici? Grillplatte? Seine Vorschläge nur die Wiederholung der Bestellungen vom letzten Mal und der vielen Male zuvor. Fast jeder hatte sein Stammessen, bei dem er blieb, nachdem er anderes ausprobiert oder gleich dieses eine Gericht für ganz ausgezeichnet befunden hatte. Meist wurden seine Vorschläge auch heute mit einem Kopfnicken bestätigt. Blieb jemand die Antwort schuldig, schlug Lothar ein zweites, ein drittes Gericht vor, von dem er wusste, dass es dem Gast zusagte. Bei Ottilie verharrte Lothar, sie die Einzige, deren Wahl nie vorauszusehen war. Die Karte allerdings brauchte er ihr nicht zu reichen. Die hatte sie im Kopf. Was gibt es im Tagesangebot?, fragte sie. Lothar antwortete. Sie schüttelte den Kopf, versuchte sich an einem Stirnrunzeln, was ihr wegen ihrer glatten Haut kaum gelang, gab nach einer Weile bedächtig, geradezu genussvoll die Speisenfolge an. Ein klares Süppchen mit viel Petersilie, ein Blattsalat, Croûtons. Sie sah Lothar fragend an. Der nickte. Ein Hühnerbrustfilet, der Reis bitte nicht zu weich, eine Zitronencremespeise. Ja, das wär's.
Wiener Schnitzel, sagte Sebastian Schuh, der sich wohl beweisen wollte, dass er zum Szegediner Gulasch noch kein Abhängigkeitsverhältnis entwickelt hatte.
Schopska-Salat!, piepste Walja, als Lothar seinen Blick auf sie richtete.
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