Er ist verschwunden, Berta. Iris Sawatzky schüttelte über so viel Ignoranz der Vertreterin des Bundes Proletarischer Schriftsteller den Kopf. Man hat ihn suchen lassen, sagte sie. Ohne Erfolg. Er ist sozusagen seiner Frau und den Genossen abhandengekommen!
Ist er nach Deutschland gegangen?
Ehrlich gesagt, das glaub ich nicht. Was erwartet so jemanden schon da drüben, entgegnete die Sawatzky.
Der junge Schulz sah aufrührerisch in die Runde. Wenn ich dran denke, wie mich seine Artikel anwiderten, die ich als Student lesen musste. Seinetwegen wäre ich beinahe aus der Partei ausgetreten. (Ausgenommen Federico Grosse und Ottilie, waren alle in der Runde mehr oder weniger aus Passion, Mitglied der Einheitspartei. Federico war zu stolz, das spanische Blut in ihm hinderte ihn daran, sich wem auch immer unterzuordnen. Um Ottilie hatte sich vermutlich niemand gekümmert. Wahrscheinlich wollte man ihre ehrliche Meinung nicht auch noch auf Parteiversammlungen hören.) Ein Kotzbrocken!
Kellners Artikel waren gequirlte Scheiße!, bestätigte Peter Heil seinem jungen Freund mit amüsiertem Lächeln.
Ja, ja, sagte die Sawatzky ungeduldig. Aber früher war er kein übler Kerl. Nur dann hat er den Realitätsbezug verloren. Schade um ihn.
Ein so mildes Urteil gerade von der Sawatzky erstaunte.
Ich hab ihn persönlich nicht gekannt, sagte der junge Schulz freundlicher.
Ich auch nicht, sagte Berta Watersloh. Und ihr faltiges Alltagsgesicht blieb gleichgültig. Ich kümmere mich um solche Leute nicht.
Seine arme Frau!, sagte Ottilie mitfühlend.
Scheußlich!, bestätigte ihr Gunter der Heitere.
Walja hatte keine Meinung. Seit sie wegen ihres Hundebellens negativ aufgefallen war, wagte sie sich nicht zu mucksen. Ihre sonst ganz enorme Zutraulichkeit verlor sich in dieser Runde schnell.
Also man kann annehmen, sagte der dünne Dichter Kerschbaumer, feixte und machte mit der Hand ein Zeichen, dass besagter Kulturpolitiker sich den Strick genommen hatte.
Einige zuckten die Schultern.
Er war dann vielleicht doch kein so schlechter Mensch, schloss Berta Watersloh.
Wieder Schulterzucken.
Wir haben alles vergeigt!, sagte Irminhild düster.
Nun hatte Walja aber eine Meinung. Du hast doch nichts vergeigt!, piepste sie. Du kannst dir keine Vorwürfe machen. Und wer sagt denn, dass alles vergeigt ist. Ich kann das nicht finden. Ich habe immer noch Hoffnung.
Auf den lieben Gott?, fragte der junge Schulz seine Altersgenossin spöttisch.
Du immer!, sagte sie. Du bist doch auch für'n Sozialismus.
Bin ich!, sagte der junge Schulz. Deswegen lasse ich doch nicht mein Gehirn vernebeln.
Also, vom kollektiven Wir halte ich in diesem Fall nichts, sagte die Sawatzky. Diese allgemeinen Schuldbekenntnisse nützen gar nichts. Die Frage ist, hatten wir unter den gegebenen Umständen eine Chance?
Ich würde sagen, der demokratische Zentralismus war ein Geburtsfehler, pflichtete ihr Nachbar Axel Harder bei. Alles scheiterte an der verfluchten Parteidisziplin. Jeder, der was Vernünftiges wollte, stand gegen eine ganze Wand. Man kämpft ein- oder zweimal etwas durch. Aber man ist ja auch bloß ein Mensch.
Lenin, ergänzte Walja beflissen.
Was am demokratischen Zentralismus demokratisch ist, ergänzte Schulz, die Die Partei neuen Typus!, sagte Schulz und lachte höhnisch. Oben geben die Parolen aus. Und wir sind Schütze Arsch im letzten Glied. So funktioniert's nicht. So nicht.
Na ... also. Walja meldete sich, ohne gleich etwas Rechtes sagen zu können, nur aus der Besorgnis heraus, dass sich ihre Kollegen zu weit vorwagten. Ein Austausch zwischen der Führung und der Basis sollte sein, sagte sie lasch.
Schulz, der Waljas Not erriet, winkte ab. Kann doch jeder hören. Weiß doch jeder, rief er so laut, dass die wenigen anderen Clubgäste wieder aufmerksam wurden. Er sprach wahrscheinlich für die, die heute Gesprächsprotokolle führten, eingedenk seiner eigenen Worte, dass man so Einfluss auf die Führung Nemeziens nehmen könne.
Ja also, die Wahrheit muss man doch sagen können!, rechtfertigte sich nun Ottilie Ehrlicher ebenfalls sehr laut, um gegebenenfalls auch im Abhörprotokoll vorzukommen. Sie eine Kämpferin, zu jeder Solidaritätskundgebung bereit. Was hätte sie, die Nichtgenossin, in Zeiten von Karl und Rosa für eine prächtige Genossin abgegeben!
Eine verfahrene Kiste! Gunter Scherzer nickte trübe.
Auf jeden Fall, so wie es ist, kann es nicht bleiben, das ist mal klar!, sagte der bittere Karge in Richtung seines Freundes Scherzer. Wo du dich auch umhörst. Ich persönlich hoffe ja auf Reformen. Wenn, also nach dem Generationswechsel ...
Alle wussten, was er meinte. Dass nach dem Saarländer Import, der beim Parteitag im nächsten Jahr aus Alters- und Gesundheitsgründen hoffentlich seiner Führungsposition enthoben würde, ein Jüngerer folgen würde, der die Sache anpackte und in Übereinstimmung mit dem inzwischen Glasnost und Perestroika betreibenden großen Bruder die längst überfälligen Reformen vornahm. Doch die Hoffnung auf Nachfolge sprach man in der großen Runde nicht aus, selbst in dieser nicht, selbst in der Endzeit Nemeziens nicht, wo man sich wenigstens in privatem Kreis um Mithörerschaft nicht mehr scherte und sich Meinungsfreiheit breitmachte. (Übrigens war nach dem letzten Schriftstellerkongress die Zensur von Büchern abgeschafft worden, weshalb es dem jeweiligen Verlag überlassen blieb, was er der Leserschaft zuzumuten wagte.)
Nur die scharfzüngige Sawatzky ließ etwas von Fürstenerziehung verlauten, sagte dann aber auch nichts weiter über den Irrglauben der Aufklärung, würde man einen Fürsten gut erziehen, gäbe er einen passablen Regenten ab. Sie lenkte wieder auf die Person von Hannes Kellner hin. Jedenfalls hat Hannes Konsequenzen gezogen, sagte sie. Er war doch empfindsamer, als wir glaubten.
Damals der Apel! Die alte Berta Watersloh erinnerte an einen hohen Funktionär, für Wirtschaft zuständig, der sich Anfang der 60er Jahre erschossen hatte.
Kannst du so nicht vergleichen, widersprach die Sawatzky. Der wollte etwas. Wahrscheinlich hat der große Bruder dazwischengefunkt. Wo wir heute ständen, wenn wir hätten machen können, was wir wollten, das wäre schon interessant. Hannes hingegen ...
Keiner sprach mehr, bis sich endlich Peter Heil ermannte. Er setzte ein entschieden fröhliches Gesicht auf und blitzte mit seinen hellen Augen. Wie dem auch sei! Er hob sein Glas. Auf unsere Zukunft! B ... Seine Lippen bebten. Er setzte neu und fehlerfrei an: Bieten wir unseren Feinden die Stirn, wo auch immer wir ihnen begegnen!, sagte er vieldeutig.
Tapfer drauf zu!, antwortete der junge Schulz dem Jubilar. Man trank sich zu, wobei die rotlockige, scharfzüngige Sawatzky und der dünne Kerschbaumer, die beide einen Stiefel vertragen konnten, ihre soeben nachgefüllten Gläser leerten, während Walja und Ottilie nur Schlückchen zu sich nahmen.
Dann wurde Federico vom jungen Schulz in einen Disput verwickelt, weshalb Berta ihm ihren Platz überließ und zu Irminhild hin rutschte, um sie über ihren Sohn zu befragen. Da mussten denn auch Kerschbaumer und Walja aufstehen und sich neu platzieren. Irminhilds Sohn nicht von Paule Berlin gezeugt, wie Irminhild Walja einmal zu verstehen gegeben hatte. Für die Vaterschaft habe sie sich jemanden anderen ausgesucht. Der Knabe zeigte musikalische Neigungen. (Irminhild selbst spielte Spinett. Ich hatte mich in der kurzen Zeit unserer Freundschaft auf ihre Bitte hin noch einmal mit Noten und der entsprechenden Lage der Töne auf einer Altblockflöte beschäftigt und drei Stücke eingeübt, die sie auf dem Spinett begleiten wollte. Es kam dann nur zu einem einzigen Zusammenspiel, das ganz leidlich funktionierte.) Irminhild förderte nach Kräften das Talent des Sohnes und gab jede Deutschmark, durch Tantiemen im Ausland verdient, für die technische Ausstattung ihres Sprösslings hin. Ottilie Ehrlicher beorderte Walja zu sich und ließ sich von ihr über eine Zusammenkunft junger Autoren berichten. Scherzer entwickelte unter geringer Teilnahme von Karge die Idee für einen Schwank, die diesen Abend nicht überleben würde. Die Sawatzky folgte wortlos der Unterhaltung zwischen Heil und Harder. Offenbar gerieten die beiden in das Thema Religion. Denn mit einem Mal kam ein Einwurf von Paule Berlin: Wir sind eine Insel in einem Meer von Weltreligionen!, sagte er.
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