Nach einiger Zeit erschien sie, in langem, elegantem Sommermantel, prächtig aussehend mit ihrer leicht gewellten, ins dunkle gehenden, ein wenig rötlich schimmernden Pagenfrisur. Wie glatt ihre rosig gefärbte Haut, wie ausdrucksvoll ihre lilafarbenen Augen die etwas groß geratene Nase und das spitze Kinn, vergessen ließen. Ihre silbernen Ohrgehänge wippten und klimperten. Ihre Miene leicht verzweifelt, in die sich beim Anblick der zwölf ein Lächeln über ihre Ungeschicktheit mischte. Wahrscheinlich hatte sie sich klammheimlich absetzen wollen, aber den Ausgang verfehlt, was auf einen äußerst schwachen Orientierungssinn schließen ließ. Ich dämliche Pute, sagte sie. Ottilie aus gutem Hause, doch ihre Rede mitunter herzhaft. Sie legte den Mantel ab, befahl Walja, sie solle sich merken, wo er sich befände. Heute könne sie für nichts mehr garantieren. Offenbar der Wein ... Sie griff zum Glas. Nun ist es eh schon egal!, sagte sie. Prost! Ich nehme nachher ein Taxi. Ottilie forderte sich von Schulz wieder ihren Eckplatz neben Irminhild zurück.
Inzwischen hatte der Jubilar Heil eine Lage Nordhäuser Doppelkorn geschmissen, der noch weitere folgen sollten. Da Berta Watersloh wie Walja, die nichts vertrug, Irminhild und Heil ablehnten, Ottilie Schnaps sowieso zuwider war, sammelten sich die Gläser um den Tischplatz der Sawatzky und des dünnen Dichters Kerschbaumer, der dann aber keine weiteren Gläser zugeschoben haben wollte. Obwohl er dem Alkohol anhing, war er ihm nur in Maßen gewachsen, während die Sawatzky soff wie ein Loch. Die anderen sahen mit staunender Teilnahme auf die Gläschen, die sich bei der Historienschreiberin sammelten und die der flinkbeinige Lothar nicht abräumen durfte. Dem übrigens auch untersagt war, Kasimir vom Tisch zu nehmen, nachdem er sich mit Zähnen und Klauen gegen die Mitnahme durch seinen Lieblingsmenschen wehrte. Kasimir kein bisschen loyal. Ihr versaut ihn mir!, sagte Lothar und war zum zweiten Mal an diesem Abend Kasimirs wegen böse auf die Stammgäste. Endlich wankte der dünne Dichter davon. Wir hätten ihm ein Taxi rufen sollen!, sagte Ottilie, die stets mitfühlende Seele. Doch dann kehrte auch er zurück, verwirrt und nicht mehr ansprechbar. Irgendetwas schien ihn in der Runde festzuhalten. Ottilie lächelte ihm ermunternd zu. Seine ungewöhnliche Anhänglichkeit bewies, der von ihr initiierte Abend war gelungen, wenn sie selbst auch schon wegen der steten Anwesenheit des Katers hatte das Weite suchen wollen. Ebenfalls kehrten Irminhild und Walja wieder, nachdem sie sich schon von der Runde verabschiedet hatten, Irminhild mit einem Kopfnicken und einem winzigen zauberischen Lächeln gegen den Jubilar hin. Walja hatte zunächst ihre Patschhand dargereicht. Als die nicht angenommen wurde, erinnerte sie sich, hier ging es nicht zu wie in Pumpe, wo die Werktätigen sich kumpelhaft mit Handschlag begrüßten und verabschiedeten. Die beiden kehrten zurück. Warum? Walja erzählte es nicht gleich. Und war es nicht auch schön, so beisammen zu sein! Berta Watersloh hatte man schlicht vergessen. Sie schlief den Schlaf der Gerechten, ihr Kopf ruhte auf ihrer Brust. Als Ottilies mitfühlender Blick auf das faltige Alltagsgesicht des Mitglieds des Bundes Proletarischer Schriftsteller fiel, sagte sie sich gewiss, die alte Frau könne hier so gut wie zu Hause schlafen und es sei für sie doch angenehm, unter so viel Freunden zu sein. Man würde sie zur rechten Zeit wecken und mit Walja in ein Taxi stecken, die dann die Aufgabe hätte, sie nach Hause zu begleiten. Walja mit solchen Aufgaben von Ottilie stets betraut, war die selbst durch Umstände verhindert. Vielleicht aber hatte Ottilie sich selbst die Aufgabe zugedacht.
Dass die übrigen Gäste gegangen waren, störte die Runde nicht.
Und jetzt!, sagte Paule Berlin leise. Alle hörten auf ihn. Es war eine Gedankenschwere und -langsamkeit eingetreten. Man dachte, Paule würde nun wer weiß was ankündigen, während er auf die Uhr schaute. Vielleicht hatte er den Zauberpeter bestellt, durch das nemezische Fernsehen bekannt und hochdekoriert. Oder eine Bauchtänzerin. Paule war so etwas zuzutrauen. Aber dann sagte er bloß: ein neuer Tag, Freunde!
Berta Watersloh schrak aus ihrem Schlaf und wünschte knurrig, nach Hause gebracht zu werden.
Lothar!, rief der Jubilar.
Lothar meldete sich nicht.
Stattdessen stand mit einem Mal jemand im Raum, ein Gewaltiger, ein Riese, vielleicht zwei Meter und zwanzig, von beachtlichem mittigem Körperumfang. Man konnte bei ihm an einen Fürsten der Unterwelt ebenso denken wie an den griechischen Gott Bacchus oder Neptun. Mit einem klassisch-griechischen Profil, etwas schräg geraten, am Ende krümmte sich die Nase leicht, das sich stark nach vorn wölbende Kinn durch den Backenbart gemildert. Die Lippen verschwunden im schwarzgrauen Bartgewirr. Die Augenbrauen buschig. Dagegen waren die vom adlergesichtigen Axel Harder noch niedliche Gewächse. Die Augen verhangen, wirkten dunkel. Später stellte Walja fest, sie waren verschiedenfarbig. Waldgrün das eine, in dem anderen Waldgrünen ein Braun hineingeschossen. Gleichmütig sah der Gewaltige von seiner Höhe auf die Runde herab.
Hatte sich Lothar aus dem Staub gemacht?
Kater Kasimir sprang vom Tisch auf den Fremden zu, umschmeichelte seine Beine, rieb sich an seinen Schuhen, wälzte sich vor ihm auf dem Teppich, bot seinen hauptsächlich weißen Bauch dar, stieß wieder mit dem Kopf gegen die Schuhe, umschlang sie mit seinen Pfoten. Was er da vorführte, sah ganz nach Treuebruch gegenüber seinem verschwundenen Lieblingsmenschen aus und bestärkte die Anwesenden in der Überzeugung, dass Lothar sie diesem Fremden überlassen hatte.
Ha! Axel Harder ließ die Kinnlade seines intelligent aussehenden Gesichts fallen, was ihn wieder zum staunenden Buben machte. Und die anderen hatten mit Ausnahmen nicht minder dumme Gesichter.
Zahlen!, verlangte Peter Heil. Seine hellen, weit auseinanderstehenden Augen starrten den Gewaltigen unerschrocken an. Seine Lippen zitterten, was auf seine kleine sprachliche Behinderung wie auf äußerste Entschlossenheit zurückgeführt werden konnte. Wahrscheinlich ließ er sich als Theatermensch von machtvollem Äußeren nicht beeindrucken. Er wusste, wie oft in großen Menschen ganz Kleine steckten und umgekehrt. Vielleicht wegen seines schwarzen Anzugs hielt er den Gewaltigen für jemanden, der für Lothar eingesprungen war.
Es geht auf Kosten des Hauses!, sagte der Gewaltige freundlich. Seine Stimme nicht ganz so voluminös wie sein Körper. Da hatten der junge Schulz und Federico Grosse mehr zu bieten und sowieso der bittere Karge und der heitere Scherzer oder der eloquente Adlergesichtige. Auch die Sawatzky mit ihrem Bassbariton übertraf ihn an Stimmgewalt, aber die hielt ja sowieso ohne Weiteres den Organen der beiden Dramatiker stand.
Eigenartig, meinte der eloquente Axel Harder, kaute kurzzeitig auf einem Finger, nahm ihn dann wieder aus dem Mund und lachte lausbübisch gegen seine Genossen hin. Wenn man dir gibt, dann nimm! Wenn man dir nimmt, dann schrei, sagte er.
Ich möchte zahlen!, beharrte Heil mit ernster Miene. Vielleicht hatte er zu viel getrunken.
Der adlergesichtige Harder von Sinn und Wahn stieß ihn an, ob er denn dämlich sei.
In welcher Währung?, fragte der Fremde weiter freundlich.
Also, das geht jetzt nun entschieden zu weit, sagte Iris Sawatzky. Wo befinden wir uns denn!
Eine berechtigte Frage!, sagte der Fremde. Ich schulde Ihnen Aufklärung. Seit Mitternacht ist diese Immobilie deutsches Eigentum. Sie hätten also in Deutscher Mark zu zahlen.
Heils Unterkiefer zitterte nun erheblich, was ihn im Augenblick an einer Meinungsäußerung hinderte. Alle anderen blieben stumm. Wahrscheinlich warteten sie auf weitere Erklärungen. Oder war diese Nummer von Paule dem Spieler bestellt?
Walja fror es. Ihre Großmutter hatte, wenn auch nur dreimal, das zweite Gesicht gehabt. Walja selbst war bisher nicht davon heimgesucht worden. Aber nun befiel sie eine heftige Vorahnung, dass etwas sehr Unangenehmes auf sie zukäme.
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