Es musste viel zu tun sein in dieser Nacht, denn trotz der späten Stunde war noch einer der Schreiber da. Der sah mich aus geröteten, überanstrengten Augen an, als ich eintrat, senkte den Blick aber gleich wieder auf seine Arbeit. Jeden Brief, den der Fürst schrieb, ließ er mehrfach kopieren für verschiedene Empfänger und das Archiv. Alle Berichte mussten in Listen erfasst und mit einer Zusammenfassung versehen werden. Und jedes Buch, das in die Bibliothek aufgenommen wurde, bekam hier ein handschriftliches Vorwort auf der ersten leeren Seite, das den Inhalt und dessen Bedeutung darstellte.
Borran selbst stand auch an einem Pult und schrieb. Sein Arbeitszimmer war groß genug für mehrere bequeme Sessel, einen Tisch, Bücherregale und einen wuchtigen Schreibtisch. Da er bei der Arbeit nicht gerne saß, nutzte er den Schreibtisch nur ab und zu.
Er war beschäftigt, deshalb hatte ich Zeit, mich umzusehen. Jedes mal, wenn ich diesen Raum betrat, faszinierten mich zwei Abbildungen.
Eine war die riesige Karte der Ringlande, die eine ganze Wand einnahm und jeden Hügel, jedes Dorf und jeden Bach darstellte. Straßen und Feldwege waren eingezeichnet, die Namen aller Siedlungen in feiner Schrift neben ihrem Standort notiert. Sogar Höhenangaben hatte Borran eintragen lassen. Man sah bei den Passstraßen im Ringgebirge und bei allen wichtigen Wegen in den Mittelgebirgen der nördlichen Provinzen, wie hoch über dem Meeresspiegel sie lagen. Diese Karte wurde regelmäßig aktualisiert. Es gab einen Kartographen, dessen Lebenswerk es war, jede neue Information über geographische Besonderheiten dem Fürsten vorzulegen und bei Bedarf in diese Karte einzutragen.
Das zweite Bild war ein Gemälde. Es zeigte die Fürstenfamilie kurz vor dem Tod von Borrans Ehefrau Isalinde. Die Schönheit und die Intelligenz, die aus ihren Zügen strahlten, waren überwältigend. Vor den beiden stand ihr Sohn, Micah, damals fünf Jahre alt. Inzwischen musste er etwa in meinem Alter sein. Borran sprach selten von seiner Frau und nie von seinem Sohn. Es hatte lange gedauert, bis ich auch nur dessen Namen in Erfahrung gebracht hatte. Gerüchten zufolge lebte der zurückgezogen und widmete sich seinem Studium. Ob er ein Priester des Einen Gottes werden wollte oder ein Schüler der Akademie des Zeuth war, wusste niemand zu sagen. Sprach man Borran auf seine Familie an, so überging er die Frage. Drängte ihn jemand zu einer Antwort, beendete er bald darauf den Umgang mit diesem neugierigen Menschen. Es gab hohe Würdenträger der königlichen Verwaltung, die keinen Zugang mehr zu ihm hatten, weil sie einmal zu oft fragten, wer denn das auf dem Bild sei.
„Es herrscht Unruhe in der Stadt“, riss mich der Fürst aus meinen Gedanken.
Mein Blick war wieder auf die Landkarte gerichtet gewesen, die außerhalb des Ringgebirges nur farbige Flächen mit unklaren Konturen zeigte. Man wusste zwar dank der Händler zumindest über die nördlichen und südlichen Regionen einiges, aber das schien nicht wert, es hier zu erfassen.
„Mehr als üblich?“, fragte ich zurück.
„Sonst würde ich es nicht erwähnen. Einer der Unruheherde sind Sie. Der andere ist dieser Reisende, der angeblich in Dongarth sein soll. Beides gefällt mir nicht.“
Ich zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht, wessen Unwillen ich mir zugezogen habe. Sollte ich es herausfinden, werde ich dafür sorgen, dass schnell wieder Ruhe einkehrt. Was den Fremden angeht: Ich habe erst vor Kurzem von ihm gehört.“
„Ich verfolge die Gerüchte über ihn seit Wochen. Sie haben sich von Osten kommend ausgebreitet, vielleicht entlang des Wegs, den er hierher genommen hat.“
„Wissen Sie, wer er ist und woher er kommt?“
„Nein. Nicht einmal, ob es ihn wirklich gibt.“
„Es waren Kurrether am Handelshafen, als ich mit Jonner dort war. So heißt der Mann, der ihren Auftrag wegen des Elfensteins übernommen hat. Sie haben sich umgesehen nach einem Schiff, das sie nach Kerrk bringt.“
Ich hatte angenommen, der unvermittelte Themenwechsel würde ihn überraschen. Aber er nickte nur. „Auch unsere Freunde, die Kurrether, sind unruhig geworden. Sie reisen mehr, als sie es bisher getan haben. Den Grund dafür kenne ich nicht.“
„Es waren drei, in Begleitung königlicher Soldaten.“
„Wären es ein Dutzend gewesen, würde ich mir Gedanken machen“, erwiderte er, ohne den Blick von dem Schriftstück zu heben, an dem er arbeitete.
„Wie viele von ihnen gibt es eigentlich?“
„In den Ringlanden? Wenige Tausend. In Dongarth und Umgebung? Vielleicht Hundert. Niemand weiß es genau. Sie bleiben meist im Hintergrund.“
Ich ging an der Wand entlang zur rechten Seite der Landkarte und sah mir die Grenzregion im Südosten an. Der Pass, der zu dem mutmaßlichen Weg nach Ostraia führte, war präzise eingezeichnet. Die Wüste dahinter nur angedeutet. Wir wussten wirklich wenig von der Welt. Und wenn die Händler recht hatten, war die Welt verdammt groß.
Borran schlug die Kladde zu, in die er geschrieben hatte, und kam zu mir. Einen Schritt von mir entfernt blieb er stehen und sah mir in die Augen.
Ich blinzelte nicht, sondern starrte mit ausdruckloser Miene zurück.
Nach ein paar Atemzügen wandte er sich um und ging zur Tür. „Man hat Ihre Wohnung angezündet. Es war klug von Ihnen, hierher zu kommen. Ich lasse Ihnen ein Zimmer im Gesindeflügel zuweisen. Nicht groß, aber sicher.“
„Danke!“, sagte ich. Bevor ich fragen konnte, was ich dafür zu zahlen hätte, öffnete er die Tür.
Romeran stand davor. „Bitte folgen Sie mir“, sagte der Leibdiener zu mir „Ich habe frische Bettwäsche bereit legen und den Waschkrug füllen lassen.“
Ich ging hinter ihm her und fragte: „Kein fließend Wasser in meinem Zimmer?“
„Die Gesinderäume sind noch nicht an die Wasserleitung angeschlossen. Fürst Borran hat jedoch vor, das in den kommenden Monaten durchführen zu lassen.“
„So lange werde ich nicht hier wohnen.“
„Man wird sehen.“
5
Am folgenden Morgen verließ ich die Stadt durch das Nord-Tor und wandte mich nach Westen. Ein paar Hundert Schritte, und schon fühlte ich mich, als würde ich in eine vor langer Zeit verlassenen Heimat zurückkehren. Die schiefen Hütten, die schlecht gekleideten Männer, Frauen und Kinder, die Geräusche und Gerüche hießen mich willkommen.
Die ärmsten Menschen in Dongarth wohnten nicht in der Stadt, sondern außerhalb der Stadtmauern. Besonders um die Nordwestecke herum stand ein dichtes Gewirr einfacher Hütten. Hier lebten diejenigen, denen selbst die dürftigsten Unterkünfte im schmutzigen Nordviertel zu teuer waren. Einmal davon abgesehen, dass es innerhalb der Mauern nicht genug Platz gab, um so viele zusätzliche Häuser zu bauen.
Armenviertel nannte man diese Hüttensiedlung verschämt, wenn man überhaupt einmal darüber sprach. Allgemein wurde es als Teil der Stadt anerkannt, doch wer hier lebte, benötigte einen Passierschein wie ein Fremder, um sich nachts in Dongarth aufhalten zu dürfen. Kinder, die hier geboren wurden, trug man nicht in das Geburtenregister ein, sie erhielten also nicht die vollen Bürgerrechte der Hauptstadt.
Es gab keine Stadtwache im Armenviertel. Diese Aufgabe übernahmen die Wachleute, die für den Westhafen am Donnan zuständig waren. Da die meist genug mit der Kontrolle der Händler und dem Verhindern von Diebstählen aus den Lagerhäusern zu tun hatten, kümmerten sie sich kaum um die Hütten der Armen.
Das hatte dazu geführt, dass sich Diebe, erwerbsmäßige Bettler und gesuchte Verbrecher bevorzugt hier aufhielten.
Während meiner ersten beiden Jahre in Dongarth hatte auch ich einen Unterschlupf im Armenviertel genutzt, weil ich nicht genug Geld für eine Wohnung innerhalb der Stadtmauern hatte. Ich lernte die Menschen hier kennen und schätzen. Wenn man sich ihre Standards zu eigen machte, waren sie so ehrenwert und anständig, wie alle anderen auch. Sie nahmen mich auf, ohne zu fragen, wer ich war und woher ich kam. Sie teilten ihre dürftigen Mahlzeiten mit mir und ich die meinen mit ihnen, wenn ich nach einem erfolgreichen Tag etwas zu Essen hatte.
Читать дальше