Annabelle war grob wie ein Kesselflicker und sprach ohne Rücksicht aus, was ihr in den Sinn kam.
Rafael nickte und dachte an die Nächte mit ihr. Er lächelte. Auch im Bett hielt sie nicht viel von Gesprächen. Aber sie war eine fantasievolle, leidenschaftliche Geliebte, und für den Liebesakt brauchte die Fürstin keine Worte.
Kleine Wellen brachen sich schäumend am Strand. Ein heller beweglicher Spitzensaum, soweit das Auge reichte. Beinahe schwerelos trabten ihre Pferde dahin, ohne Spuren im Sand zu hinterlassen. Annabelles Gewänder flatterten, Kaskaden von silbernen Tropfen hüllten Pferd und Reiterin ein.
Rafael hätte zu gerne gewusst, worüber Annabelle nachdachte. Ihr Gesichtsausdruck verriet nichts, glich einer marmornen Maske. Er schaffte es selten, in ihre Gedanken einzudringen.
Es war außerordentlich reizvoll, Annabelle zu beobachten. Ihre eleganten Bewegungen, ihr schönes Gesicht mit den leicht schräggestellten violetten Augen wirkten bezaubernd.
Ihre Gedanken waren weniger bezaubernd. Sie konsultierte eine imaginäre Liste, auf der alle Fürsten der Lichten und der Schattenwelt verzeichnet waren.
Jeder, dachte sie, hat ein Geheimnis, das er nicht öffentlich machen will.
Erpressbar oder korrupt oder beides waren fast alle. Auch Gewalt schloss sie nicht aus, aber dafür wäre eher Leathan zuständig. Spione … ja, auch Spione …
Sie lauschte. Aus dem Wald kamen Geräusche, die jedem, der sie hörte das Blut in den Adern gefrieren ließ. Die wilden Bären trieben seit Jahrhunderten hier ihr Unwesen.
Keiner, der so dumm war hier hineinzugehen, kam lebend wieder heraus. Ihre schönen Lippen verzogen sich zu einem süffisanten Lächeln. Sie hätte gerne gesehen, was die Schwarzbären gerade mit einem ungebetenen Besucher anstellten. Oder war es einer der Trolle, die hier hausten? Sie waren genauso blutrünstig wie die Bären.
Ihre Gedanken wandten sich wieder ihrer Aufgabe zu. Sie würde ein wenig reisen, ein paar Besuche machen müssen, ein Fest ausrichten für die, die sie manipulieren, oder die ärmeren Fürsten, die sie schmieren wollte. Ihr fielen zwei Brüder ein, Fürsten eines unbedeutenden Landes, die sich um eine ebenso unbedeutende Burg stritten. Einer von ihnen hatte für Magalie gestimmt. Ihr schöner Mund verzog sich zu einem herablassenden Lächeln. Es war alles so einfach. Dank ihres Reichtums konnte sie alles regeln.
Unwillkürlich griff sie sich an den Busen. Für einen Augenblick war ihr, als baumelte das Medaillon bereits zwischen ihren Brüsten.
Magalie war ratlos. Unsichtbar hatte sie die Felsenburg von oben bis unten durchsucht. Irgendetwas sagte ihr, dass weder Oskar noch Lotte in der Burg waren, aber sie durchstreifte sie trotzdem. Sie war sicher, dass die beiden hier gewesen waren. Hatte man sie weggebracht? Wer? Wohin?
Sie presste sich in eine Nische, als sie Schritte hörte. Ein Schlüsselbund klimperte, und eine Tür ganz in ihrer Nähe wurde geöffnet. Gleich darauf hörte sie ein Klatschen, dann einen Aufschrei. Noch ein Klatschen. Magalie schlich sich näher. In der Kammer standen Siberia und eine junge Hexe, die sich die Wange rieb. Siberia drehte sich plötzlich zur Tür und sah Magalie direkt an. Fast konnte man glauben, dass die Hexe sie sah. Aber das konnte sie nicht. Die Fürstin blieb unsichtbar.
Dennoch, es war möglich, dass die schwarzmagische Hexe ihre Anwesenheit spürte. Magalie zog sich zurück, blieb aber in Hörweite.
Offenbar hatte man Oskar nicht von Lotte trennen können und die beiden hier zusammen eingesperrt. Sie verstand, dass Siberia die Hexe geschlagen hatte, weil sie ihr die Schuld an ihrem Verschwinden gab. Und noch etwas wurde ganz klar: Auch Siberia wusste nicht, wo ihre beiden Gefangenen waren.
Aber wie war Oskar diesem verschlossenen Raum entschlüpft? Er musste Hilfe gehabt haben. Von wem?
Siberias Worten entnahm sie, dass die Entführung allein auf ihr Konto ging. Leathan wusste nichts davon.
Sie zog sich noch weiter in den Schatten zurück, als sie Richard kommen sah.
Wenn er wütend war, was selten vorkam, ähnelte er in verblüffender Weise seinem Vater. Sein sonst so sanfter Ausdruck wandelte sich.
Er stürmte an ihr vorbei in den Raum. Die Tür schlug gegen die Wand.
»Wo ist mein Kind?«
Richard hielt Siberia an beiden Armen gepackt und schüttelte sie.
Sie öffnete die Lippen, aber kein Wort kam aus ihrem Mund. Sie starrte den jungen Mann an, als sähe sie ihn zum ersten Mal.
Magalie wusste von Richards hypnotischer Fähigkeit, sein Gegenüber etwas sehen zu lassen, was nicht wirklich da war. Sie fragte sich, was Siberia in diesem Moment in Richard erblickte. Sie würde es vermutlich nie erfahren. Richard ließ die Hexe so abrupt los, dass sie fast stürzte.
Siberia wusste nichts, wortlos schüttelte sie den Kopf.
Magalie hatte genug gehört, sie wandte sich zum Gehen. Aber wieder wurde ihr der Rückweg versperrt, fast wäre sie mit Maia zusammengestoßen. Mit wehenden Gewändern schritt Leathans Mutter knapp an ihr vorbei. Einen Moment schien es, als ob sie anhalten wollte. Mit einem kaum wahrnehmbaren Lächeln neigte sie den Kopf in Magalies Richtung, aber sie ging weiter. Auch Maia besaß diesen Instinkt , dachte die Fürstin. Sie sah, ohne zu sehen, sie ahnte sogar, wer dort stand. Wie so oft, fragte sie sich, wie Maia zu einem so abgrundtief bösen Sohn wie Leathan kommen konnte.
Maia selbst war die Tochter des Herrschers, der vor Leathan über die dunkle Welt regiert hatte. Ein Elf, der auch nicht gerade unschuldig gewesen war, aber gegen seinen Enkel als Lämmchen durchgehen konnte. Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Richard, Siberia und Maia zu.
»Was ist dir denn eingefallen? Einen Säugling zu entführen ist selbst für dich …«
Magalie hatte Maia noch nie so wütend gesehen. Die Wände des Raumes nahmen eine lodernd orangefarbene Tönung an, als ob sie in Flammen stünden. Seltene Farbe in der Dunkelwelt, dachte Magalie.
Siberias von Farben verhexter Blick. Sie rührte sich nicht mehr. Bewegungslos bliebe sie, bis Maia geneigt wäre, ihre Fesseln zu lösen.
Magalie wusste, dass Maia Farben von Eliana bekam. Eliana. Leanders Weib war die Hüterin einer großen Farb-Bibliothek. Sie konnte Farben extrahieren, aus dem Sommerwind, den Flügeln eines Schmetterlings, dem Sturm, Gewitter und aus Gefühlen, wie dem Lachen ihrer Kinder, der Liebe ihres Mannes und der Lust. Die Farben waren stark, sie konnten töten, heilen und fesseln, richtig angewandt, sogar bunte Seile spannen, über die man gehen konnte wie über eine regenbogenfarbene Brücke.
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