Die Küche der Hexen verwandelte sich in einen wahren Hexenkessel. Die Feuer loderten bis zur Decke, als Maia die Tür aufriss. Eine junge Hexe riss erschreckt einen heißen Topf vom Herd. Ekelhaft stinkender Inhalt ergoss sich über einen Zwerg. Sein Schmerzensschrei wurde von der hohen Decke zurückgeschleudert und gleich darauf übertönt vom Krachen des Eisentopfes auf dem Steinfußboden. Dem Zwerg war nicht mehr zu helfen, er löste sich bereits in Staub auf. Einen zweiten packte Maia am Kragen und warf ihn zur Tür hinaus. Ihre Wut war grenzenlos, wie weggewischt ihre übliche Beherrschtheit. Sie war kurz davor, die gesamte Küche abzufackeln.
»Wo ist Siberia«, fuhr sie eine vor Furcht erstarrte junge Hexe an.
»Ich, ich weiß nicht.« Sie stotterte.
Aber Maia hörte sie schon nicht mehr. Sie rannte den Flur entlang, sah nicht die plakenden Fackeln an den Wänden, stieß Trolle zur Seite und stürzte durch die unbewachte Flügeltür in Leathans riesigen Empfangsraum. Er war leer.
Die Felsenburg war groß wie eine Stadt. Niemand wusste genau, wie viele Räume, Hallen und Kammern es hier gab. Gemächer, Versammlungsräume und Säle zu zählen war keinem je gelungen. Wenn die Kleine hier versteckt worden war, konnte es lange dauern, bis sie herausfand, wo. Wenn sie überhaupt hier war.
Hätte sie nicht, als sie mit ihm sprach, bemerken müssen, dass Leathan etwas im Schilde führte? Aber Maia hatte nichts gespürt. Das Gefühl, dass Leathan nichts von dieser Entführung wusste, verdichtete sich. Ob Siberia eigenmächtig gehandelt hatte? Mit ihr war nicht zu spaßen, und ihre Worte, nachdem Leathan ihren gemeinsamen Sohn getötet hatte, klangen fürchterlich: »Der Hölle Rache kocht in meinem Herzen … Hört Rachegötter, hört der Mutter Schwur!«
Siberia war alles zuzutrauen.
Einen Moment lang stand Richard wie erstarrt, als der dunkle Schatten über Lotte und Oskar fiel. Er musste hilflos zusehen, wie die beiden vor seinen Augen verschwanden. Nach dem ersten Schock hastete er zu den Glashäusern, schob die Bodenplatten auseinander, stürzte die dunklen Treppenstufen hinunter und gelangte durch den feuchten Tunnel in den Brunnenschacht. Er fragte sich nicht, wer für die Entführung seiner Tochter verantwortlich war. Leathans beliebteste Zwangsmaßnahme. Nur sein Vater konnte dafür verantwortlich sein. Siedender Hass breitete sich in ihm aus. Wie konnte er es wagen, und was bezweckte er damit?
Seine Finger bluteten, nachdem er sich an den rostigen Eisenklammern im Inneren des Schachts hinaufgezogen hatte. Der Platz, der ihn oben erwartete, war nicht groß. Die Herrenhäuser, die ihn umrahmten, wirkten umso gewaltiger. Der kleine Marktplatz schien sich unter der Übermacht der Gebäude zu ducken wie ein furchtsames Tier.
Die Reste eines heruntergekommenen Zirkus standen noch. Verkohlte Wagen, ein umgekipptes Kinderkarussell, dessen zerbrochene hölzerne Pferde ihn aus leeren Augenhöhlen anstarrten. Zeltplanen flatterten im Wind.
Murat erwartete ihn. Der Graue erhob sich auf die Hinterpfoten und stemmte seine gewaltigen Pfoten gegen Richards Brust. »Nicht jetzt, Murat.«
Er schob ihn weg. Aber das Tier wich nicht von seiner Seite, während er durch die Stadt zur Felsenburg rannte.
Richards Schritte knallten hart auf dem kalten Stein der Flure. Die, die ihm begegneten, drückten sich hastig zur Seite. So hatten sie ihn noch nie gesehen. Er brannte, seine Wut war grenzenlos.
Diesmal bist du zu weit gegangen, Vater. Aber er suchte ihn vergeblich. Er wandte sich wieder zur Tür. Murat saß unbeweglich im Ausgang und fixierte ihn, als wolle er ihm etwas mitteilen.
Endlich nahm sich Richard Zeit, kniete nieder und versenkte sich in ihn. Diese Art, ohne Worte miteinander zu kommunizieren, glich einer Mitteilung in Bildern. Er sah Wald, Pferde und bewaffnete Männer.
Von dieser Fähigkeit des Wolfes, zu »sprechen«, ahnte Leathan nichts. Seit er von Leathan halb zu Tode geprügelt worden war und Richard ihn gerettet hatte, »sprach« Murat mit Richard und denen, die zu ihm gehörten. Jetzt verstand Richard. Leathan befand sich auf der Jagd.
Corone sah ihn aus ihren schönen Augen an, als er den Stall betrat. Sie stampfte ungeduldig mit den Hufen.
Neben ihm tauchten Julian und Jesse auf. Die Brüder führten ihre Rappen am Zügel. »Wir begleiten dich.«
Er war versucht, seine Freunde zurückzuweisen. Julian hatte seinen Posten als sein Stellvertreter an Kastor abgeben müssen, natürlich. Leathan konnte nicht auf einen seiner treuesten Anhänger verzichten und hatte seinem Sohn und dessen Gefolgsleuten jeden Einfluss entzogen. Er billigte keine andere Macht neben sich. Richard war nicht unglücklich darüber. Weniger Verantwortung bedeutete mehr Zeit zu haben für ein Leben in der Lichten Welt mit Faith und seinen Töchtern.
Könnte das der Grund für Lottes Entführung sein? Glaubte Leathan, ihn in seiner Welt halten zu können, indem er seine Kinder raubte?
Er hörte Jesse sagen: »Versuch es gar nicht erst.«
»Was?«
»Uns am Mitkommen zu hindern.« Er feixte. »Ich kann deine Gedanken lesen, mein Freund.«
Zum ersten Mal an diesem Tag lächelte Richard. Jesse war ein unverbesserlicher Optimist mit einem sehr glücklichen Temperament. Er spielte so betörend Flöte, dass selbst die Vögel verstummten. Er entlockte einem unscheinbaren Holzrohr herzzerreißend schöne Töne, die seine Zuhörer zu Sklaven machten. Ein Rattenfänger. Schon mit dem ersten Ton schlug er sein Publikum in den Bann. Niemand konnte sich diesem Zauber entziehen.
In den Tiefen der Felsenburg hockte Oskar. Er hielt ein Baby im Arm.
»Du musst dich nicht fürchten, Lotte.«
Der Glitter schlotterte nicht nur, weil er sich in der Dunkelheit fürchtete, sondern auch vor Kälte. Dunkelheit mochte Oskar gar nicht. Der Glitter war die Helligkeit der Lichten Welt gewöhnt.
Tapfer presste er das kleine Mädchen an sich. Nicht einen Moment hatte er sie losgelassen, nachdem die Hexen über sie hergefallen waren. Zwei Feen waren bei dem Überfall getötet worden und zu silbernem Staub zerfallen.
Er betrachtete die rothaarige Kleine in seinen Armen. Wenn er nur schneller gewesen wäre. Schließlich konnte er sich und das, was er mit sich führte, fast unsichtbar machen. Aber die Hexen waren gewandter als er gewesen, und nur Lottes Schrei hatte sie davon abgehalten, ihn und das kleine Mädchen zu trennen.
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