„Aber wir gehen doch im Moment direkt nach Süden“, wandte Macay ein.
„Weil diese Empfehlung natürlich nicht nur uns bekannt ist. Unsere Verfolger werden ebenfalls die Südwest-Route benutzen. Deshalb nehmen wir nicht den sichersten Weg. Hoffen wir, dass wir unterwegs Wasser finden.“
Sie wanderten weiter. Der Wald war unheimlich still, nur ihre Schritte klangen so laut, als wäre eine ganze Kompanie unterwegs. Jeder knackende Zweig unter seinen Füßen ließ Macay erschreckt zusammenzucken. Später wurde es dunkel, obwohl es erst früher Nachmittag war. Macay hörte ein leises Rauschen, das langsam lauter wurde, bis der Wald zu dröhnen schien.
„Wir haben Glück: Regen“, sagte Rall. „Ein Wolkenbruch, der auf das Blätterdach des Waldes niedergeht. Hier unten kommt kaum etwas davon an.“
„Woher bekommen die Bäume dann das Wasser zum Wachsen?“, wollte Macay wissen.
„Ein Teil des Regenwassers wird in der Rinde der Bäume nach unten geleitet“, erklärte Rall.
Es war so dunkel geworden, dass man kaum noch etwas sehen konnte, deshalb streckte Macay die Hand aus und berührte den nächststehenden Baum. Tatsächlich fühlte er, wie in den Rinnen der Borke Wasser rieselte. „Damit könnten wir unsere Wasserflaschen auffüllen“, überlegte er laut.
„Besser nicht. Wer weiß, welche Gifte das Wasser auf seinem Weg nach unten von der Rinde des Baumes aufnimmt. Du bist auf dem Nebelkontinent, Junge, vergiss das nicht.“
Da sie in der Dunkelheit nicht weitergehen wollten, suchten sie sich eine besonders dicht mit Moos bewachsene Stelle und schlugen dort ihr Lager auf. Macay trug ein paar trockene Äste zusammen und entfachte ein Lagerfeuer.
„Zzorg übernimmt die erste Wache“, bestimmte Rall.
Macay sah ihn überrascht an, denn normalerweise fragte Rall, wer welche Schicht übernehmen wollte. Aber er war müde und eigentlich froh, nicht als erster dran zu sein, also ließ er es dabei bewenden und legte sich hin.
Nachts schreckte Macay aus dem Schlaf hoch. Zzorg saß ein Stück abseits auf einem großen Stein. Macay nahm ihn nur als dunklen Schatten wahr. Ein seltsames Geräusch erfüllte den Wald, ein leises Singen, begleitet von einer Melodie, als würde der Wind im Geäst der Bäume spielen. Aber die Bäume waren viel zu mächtig für solche zarten Töne und der Gesang klang nach menschlichen Stimmen. Macay wollte Zzorg danach fragen, aber die Melodie wirkte so einschläfernd, dass ihm gleich wieder die Augen zufielen.
Einige Stunden später wurde Macay von Rall geweckt. Rall hatte die zweite Schicht übernommen, nun war es an Macay, bis zum Morgen wach zu bleiben. Macay war ein Stadtkind und deshalb in der Natur nicht so zu Hause wie Rall oder Zzorg. Nachtwachen waren ihm ein Gräuel. Er setzte sich auf den Stein, auf dem Zzorg gesessen hatte, und lauschte nach den Geräuschen der Nacht. Das Singen war nicht mehr zu hören und sonst auch nicht viel. Ab und zu ein plötzliches Rascheln über ihnen in den Blättern des Baumes oder ein schnell tippelndes Kratzen, wenn ein kleines Tier an der Rinde hoch huschte.
Unerwartet fühlte Macay einen Lufthauch im Genick. Er fuhr herum, das Kurzschwert ausgestreckt - aber hinter ihm war nur Dunkelheit. Macay stand auf und starrte angestrengt in alle Richtungen. Nichts. Nur ein heller, roter Punkt war zu sehen: die verglühende Asche des Lagerfeuers. Und doch hatte er den Eindruck, er brauche nur die Hand auszustrecken, um jemanden zu berühren, der in seiner Nähe stand und ihn anstarrte. Er hielt den Atem an und stieß mit dem Schwert zu. Nichts. Dann raschelte etwas in einiger Entfernung. Das Gefühl, jemand sei in seiner Nähe, schwand.
Macay war unendlich erleichtert über die beginnende Morgendämmerung. Er freute sich, Rall und Zzorg auf ihren Mooslagern zu sehen, und machte sich daran, das Feuer neu zu entfachen. Und doch überfiel ihn wieder das Gefühl, beobachtet zu werden, und zwar von oben. Er hob den Kopf und starrte in das Blätterdach, das unerreichbar weit über ihm einen dunkelgrünen Himmel bildete. Sahen die Bäume auf ihn herab?
„Gestern Abend hast du den Gesang des Waldes gehört“, sagte Rall später beim Frühstück. „Er ist gefährlich für Reisende, weil er sie einschläft. So werden sie leicht Opfer von wilden Tieren, von denen es hier zum Glück nicht viele gibt. Der Vorteil ist, man schläft ausgesprochen gut und tief im Alten Wald.“ Rall reckte und streckte sich, ließ sich dann auf alle Viere nieder und machte einen Katzenbuckel, wie Macay noch nie einen gesehen hatte. „Woher der Gesang kommt, weiß keiner zu sagen. Er dauert zwei bis drei Stunden, dann ist wieder Ruhe. Echsenwesen sind immun dagegen, deshalb hat Zzorg die erste Wache übernommen.“
„Ich habe mich die ganze Nacht beobachtet gefühlt“, gab Macay zu.
„Das ist normal. Der Wald sieht alles, sagt man. Es ist einfach eine unheimliche Gegend, deshalb ist sie so leer. Es sind auch viele Geschichten über den Alten Wald in Umlauf. Manche behaupten, die Bäume würden Menschen verschlucken. Oder es gebe einzelne Bäume, die reden können und dem Reisenden Ratschläge erteilen, wie er am besten zu seinem Ziel kommt, wenn man höflich fragt. Aber das sind alles Kindermärchen.“
„Wirklich? Eigentlich gibt es doch auf dem Nebelkontinent ziemlich viel, was es anderswo nicht gibt. Warum also nicht auch das?“
„Weil wir auf unseren langen Reisen nie jemandem begegnet sind, der es selbst erlebt hat. Es sind nur Geschichten.“
Sie packten ihre Sachen zusammen und marschierten weiter. Bald gelangten sie zu einem Tümpel, über dem das Blätterdach des Waldes eine Lücke aufwies. Hier war ein alter Baumriese umgestürzt und die nachwachsenden Bäume waren noch nicht hoch genug, um die Lücke zu füllen. Der Tümpel hatte sich offenbar erst am Vortag bei dem starken Regenfall gebildet, sein Wasser war klar und sauber. Sie tranken und füllten ihre Wasserflaschen, die nichts anderes als ausgebrannte, kunstvoll bearbeitete Flaschenkürbisse waren.
„Der Tümpel ist ein Glücksfall für uns“, sagte Rall. „Morgen wird das Wasser bereits abgestanden und brackig sein. Praktisch ungenießbar für die Kaiserlichen, falls sie uns doch folgen sollten.“
„Glaubst du wirklich, sie sind noch hinter uns her?“, fragte Macay verblüfft.
„Sie haben bisher eine ziemliche Hartnäckigkeit an den Tag gelegt.“
„Ich hatte gehofft, hier seien wir vor ihnen sicher“, seufzte Macay. „Schließlich gibt es noch genügend andere Gefahren, vor denen wir uns in Acht nehmen müssen.“
„Das stimmt wahrhaftig“, gab Rall zu.
Um sie herum, in den Ästen der niedrigeren Bäume, raschelte es lauter als gewohnt.
„Auch wenn es dumm klingt“, sagte Macay mit belegter Stimme, „ich fühle mich wieder beobachtet, genau wie heute Nacht.“
Nun hob auch Zzorg den Kopf und musterte die Baumkronen in ihrer Umgebung. „Vermutlich sind es Tiere, die hier trinken wollen.“
„Das soll uns nicht hindern, in aller Ruhe unsere Angelegenheiten zu regeln, bevor wir weiterziehen“, sagte Rall. Er begann, im klaren Wasser den gröbsten Schmutz aus seiner Bekleidung auszuwaschen. Da er seit seiner Einkerkerung nicht dazu gekommen war, ging auch ohne Seife eine ganze Menge Dreck heraus. Im Laufe des Tages sammelten sich in der Nähe des Tümpels immer mehr Stechfliegen, die es auf Macay abgesehen hatten. Deshalb zogen sie am Nachmittag weiter.
Das Rascheln in den Baumkronen über ihnen hatte während ihres ganzen Aufenthalts am Tümpel nicht mehr nachgelassen. Als sie losmarschierten, erwartete Macay, diese Geräusche hinter sich zu lassen. Aber dem war nicht so.
Nach einer halben Stunde blieb Rall stehen. „Etwas verfolgt uns“, sagte er.
„Was?“, fragte Macay und sah sich um.
„Was auch immer in den Baumkronen lebt. Das Rascheln bleibt uns auf den Fersen, immer ein wenig hinter uns. Wir sollten uns auf einen Angriff von oben gefasst machen.“ Rall nahm den Bogen vom Rücken. „Vielleicht hilft es, wenn ich einen Schuss in die Richtung abgebe.“ Er tat es, und aus den Baumkronen ertönte als Antwort ein schriller Schrei.
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