„Woher?“
„Die Organisation der Diebe ist in allen Siedlungen vertreten. Und Tauben mit einem Zettelchen am Bein fliegen schneller, als je ein Floß den Pil hinauffahren kann. Eszger hat uns von dem Überfall der Kaiserlichen ebenso unterrichtet, wie über das Auftauchen von Rall und dir. Selbstverständlich haben wir das für uns behalten. Man muss nicht alles ausplaudern, was man weiß, sondern es geschickt für die eigenen Zwecke einsetzen.“
Macay lehnte sich gähnend zurück und fragte: „Welche Zwecke?“
„Absetzung des Bürgermeisters und Vertreibung der Kaiserlichen vom Nebelkontinent.“
„Da habt ihr viel vor.“
„Richtig. Und der erste Schritt dazu ist, Rall aus dem Kerker zu befreien. Dann müssen wir Zzorg finden. Mit diesen beiden sollte es möglich sein, unser Ziel zu erreichen.“
„Wir sind eigentlich auf dem Weg zur Westküste, zu den Karoliern“, sagte Macay.
„Das hat Rall dir erzählt. Aber Zzorg und Rall haben schneller als du bemerkt, was Sache ist.“
„Nämlich?“
„Mit dir stimmt etwas nicht. Seit du aus dem Lager an der Küste geflohen bist - und auch davon haben wir recht schnell erfahren -, sind die Kaiserlichen hinter dir her, als wärst du ein ganz besonders wichtiger Mensch.“
„Sie sind hinter mir her, weil sie jeden Flüchtling jagen.“
„Sie versuchen, Flüchtlinge zu fangen, das stimmt. Wobei fast alle, die aus den Lagern fliehen, vom Nebelkontinent getötet werden, sobald sie den Dschungelgürtel an der Küste hinter sich lassen. Aber seit wann werden hinter einem kleinen Dieb, der aus einem Lager ausbricht, ganze Trupps von Soldaten her geschickt werden? Nein, die Kaiserlichen wollen etwas von dir.“
„Ich habe aber nichts.“
„Wenn es nicht um etwas geht, das du besitzt“, sagte Elkmar, „dann geht es um etwas, das du bist.“
„Ich bin nichts Besonderes.“
„Vielleicht hast du Eigenschaften oder Talente, von denen du selbst nichts weißt. Aber es ist müßig, darüber zu spekulieren. Wichtig ist zunächst, Rall zu befreien, damit ihr drei euren Weg fortsetzen könnt, hinein in den Alten Wald.“
„Wieso in den Alten Wald? Wir wollen ...“
Elkmar unterbrach ihn. „Besprich das mit Zzorg und Rall, wenn ihr wieder beisammen seid.“
„Schön, wenn du meinst“, gab Macay sich erst einmal geschlagen. „Aber wie bekommen wir Rall frei?“
„Ich habe da schon einen Plan“, behauptete Saika. „Wir brechen ins Gefängnis ein.“ Sie begann, ihren Plan zu erklären.
Die Vorbereitungen für die Befreiungsaktion dauerten zwei Tage. Dabei war der entscheidende Teil der Arbeit einer Gruppe von Dieben vorbehalten, die Macay nur einmal kurz zu sehen bekam. Es waren ein knappes Dutzend Gestalten, darunter offenbar auch Katzer und Echser. Diese Gruppe hatte den Auftrag, von außen ins Gefängnis einzubrechen.
„Wir nutzen dazu den schlechten Zustand der Stadtmauer“, erklärte Saika. „Die vielen Ritzen und losen Steine bieten genügend Halt für Kletterpflanzen.“
Unter den versammelten Gestalten gab es leise Proteste.
„Ich weiß, das ist nicht ungefährlich“, gab Saika zu. „Aber wir müssen es riskieren. Während ihr so tut, als würdet ihr das Gefängnis von außen stürmen, befreien wir Rall und machen uns aus dem Staub.“
„Wir werden es tun“, sagte nach einer gemurmelten Beratung einer der Diebe. „Einer der Unseren ist auch gefangen und muss befreit werden.“
Damit ging die Versammlung auseinander. Saika und Macay kehrten in Elkmars Druckerei zurück.
„Warum sollen sie nur so tun als ob?“, fragte Macay unterwegs.
„Das soll die Wachen ablenken“, erwiderte Saika. Sie erklärte Macay zum ersten Mal den echten Ausbruchsplan: In den Ausläufern des Alten Walds, der sich bis fast an die Stadt heran erstreckte, wurden einige Triebe einer extrem gefährlichen Kletterpflanze geholt. Diese fleischfressende Pflanze wuchs dort an Bäumen empor auf der Suche nach Vogelnestern, Eichhörnchen und ähnlichem Getier. Da es Jagdpflanzen waren, konnten sie sich, wenn es darauf ankam, sehr schnell bewegen. Ihre Ausläufer wurden dann zu messerscharfen Peitschenschnüren, die das Opfer glatt zerteilen konnten, worauf die Blätter das Blut aufsaugten. Macay erinnerte sich schaudernd an das tödliche Gras in der Ebene.
Die Triebe dieser Pflanzen waren ein hervorragendes Werkzeug. Der Plan sah vor, sie außerhalb der Mauer einzupflanzen und dann die Mauer mit frischem Tierblut zu bestreichen. Dadurch wurden die Pflanzen zu besonders schnellem Wachstum angestachelt. Ihre Triebe würden sich an Mauerspalten und Ritzen entlang nach oben ziehen, in der Hoffnung, dort Beute zu finden. Dann konnte man die Pflanzen, indem man ihnen ein paar Tierkadaver zum Fraß vorwarf, ruhigstellen und sie als Kletterhilfe benutzen.
Saikas Idee war es nun, solche Triebe vor der Stadtmauer im Süden, also außerhalb des Gefängnisses, einzupflanzen, um auf die Mauerkrone zu gelangen. Dort oben sollten dann einige Diebe einen Riesenradau veranstalten, als sei eine ganze Horde Bewaffneter dabei, in das Gefängnis einzudringen. Natürlich war das gefährlich, da die Wachen mit Pfeil und Bogen ausgerüstet waren und sicherlich gut damit umzugehen wussten.
Diese Zeit der Verwirrung würden Saika und Macay nutzen, um die eigentliche Befreiungsaktion zu starten. Nur zu zweit, wie ihm Saika versicherte, denn mehr Leute waren gar nicht nötig, jemanden aus dem Kerker zu holen, solange die Wachen abgelenkt waren.
Am Tag vor dem geplanten Ereignis, als schon zwei von Saikas Freunden im Wald unterwegs waren, um die notwendigen Triebe zu besorgen, kam ein kleiner Junge in die Werkstatt von Elkmar gerannt und schrie: „Die Kaiserlichen kommen!“ Bevor man ihn fragen konnte, was er damit meinte, rannte er schon weiter.
Besorgt machten sich Macay, Saika und Elkmar auf den Weg zum östlichen Stadttor, wohin auch viele andere Einwohner strömten. In einer großen Menschenmenge stehend mussten sie zusehen, wie durch das Tor einige berittene Kämpfer kamen, die zwar keinerlei Abzeichen oder sonstige Hinweise ihrer Herkunft trugen, aber zweifellos zu den kaiserlichen Truppen gehörten. In ihrer Mitte ging Zzorg: gefesselt, geknebelt und aus mehreren Wunden blutend.
Begleitet von vielen Menschen brachten die Kaiserlichen Zzorg zum Gefängnis, in das er unter Schlägen und Beschimpfungen der Wachen geführt wurde. Diese Behandlung führte zu erheblicher Unruhe unter den Zuschauern, war ihnen Zzorg doch, soweit sie ihn schon kannten, als aufrechter Kämpfer für die gute Sache bekannt. Auch Elkmars Zeitungsartikel über das Heldenduo Zzorg und Rall mochte geholfen haben, die Menschen misstrauisch gegen diese Vorführung eines angeblichen Verbrechers zu machen.
Der Bürgermeister sah sich genötigt, die Menge zur Ruhe aufzufordern. „Es wird alles erklärt werden, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger“, schrie er und wedelte mit den Armen. „Dieser Echsenmann ist ein Verbrecher!“
Es dauerte eine Weile, bis er sich Gehör verschaffen konnte. „Es wird ein gerechtes Verfahren geben“, behauptete er dann. „Morgen Abend wird er öffentlich vor Gericht gestellt, und dann werden alle erfahren, welcher Taten gegen die Interessen Heimstadts er bezichtigt wird. Geht jetzt nach Hause. Die kaiserlichen Soldaten werden darüber wachen, dass euch nichts geschieht. Morgen ist der Prozess. Öffentlich auf dem Marktplatz.“
Die Menge begann, sich murrend zu zerstreuen. Macay war zu verblüfft, um wegzugehen. Elkmar packte ihn am Arm und zog ihn mit sich.
„Was für Verbrechen soll Zzorg denn begangen haben?“, fragte er Elkmar und Saika, als er wieder klar denken konnte.
„Ich weiß es nicht. Aber auf der Reise von Eszger hierher können viele Dinge geschehen sein, die man zu Verbrechen umdeuten kann“, antwortete Elkmar. „Kämpfe gegen Kaiserliche, zum Beispiel.“
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