„Das waren aber keine Verbrechen von uns, sondern ...“
Elkmar unterbrach ihn: „Man wird ihm solche Vorfälle zumindest vorhalten. Aber wenn Saikas Plan Erfolg hat, brauchen wir uns keine Gedanken darüber zu machen. Dann ist Zzorg morgen früh frei, genauso wie Rall.“
Gegen Mittag lagen mehrere Triebe von Kletterpflanzen in Säcken verpackt außerhalb der Stadtmauer bereit. Ein Katzmensch war verletzt worden bei dem Versuch, Triebe abzuschneiden, aber die Verletzung war zum Glück nicht schwer. Wegen Zzorgs Verhaftung musste die Aktion noch vor Hereinbrechen des Abends beginnen, einen Tag früher als geplant. Die Triebe brauchten zum Anwachsen Sonnenlicht. Waren sie erst einmal in der Erde verwurzelt, wuchsen sie auch nachts weiter - schließlich war das ihre bevorzugte Jagdzeit im Wald.
Elkmar nahm Macay beiseite. „Wenn eure Flucht gelingt, woran ich nicht zweifle, dann werdet ihr in den Alten Wald gelangen. Ich kann dir leider nicht viel über diesen Wald erzählen, außer Spukgeschichten, die wenig hilfreich sind. Aber ihr werdet irgendwann auf die Ruinenstadt stoßen. Meidet sie, wenn ihr könnt. Ihr könnt die südlichen Pässe nutzen, um das Gebirge zu überqueren. Aber es soll auch einen Tunnel geben, der irgendwo in der Nähe der Ruinenstadt beginnt und unter dem ganzen Gebirge hindurchführt. Falls ihr seinen Eingang findet, ist das wahrscheinlich die sicherste Möglichkeit, um zur Westküste zu gelangen.“
„Ist schon einmal jemand durch diesen Tunnel gegangen?“
„Nicht, dass ich wüsste. Die Geschichte über den Tunnel gehört zu den Erzählungen, die in Umlauf sind, ohne dass man weiß, woher sie kommen. Ich persönlich glaube, es sind uralte Überlieferungen aus einer Zeit, als die Ruinenstadt noch bewohnt war. Aber Genaueres kann dir niemand sagen.“
„Falls wir durch den Tunnel gehen, werden ich Ihnen aus Port Hadlan eine Nachricht schicken und berichten, wie es war.“
„Sehr schön, den Bericht werde ich dann in der Zeitung abdrucken. Noch etwas Wichtiges: In einem Versteck im Alten Wald liegen Waffen und Vorräte für euch bereit.“ Elkmar schilderte die Lage des Verstecks. Dann stand er auf und streckte die Hand aus. „Auf Wiedersehen, Macay. Und viel Glück!“
Macay hatte einen Kloß im Hals, als er sich von Elkmar verabschiedete. Aber Saika drängte. Sie und Macay mussten sich beeilen, um rechtzeitig an Ort und Stelle zu sein, wenn im Morgengrauen der Scheinangriff über die Stadtmauer begann.
Im Schutze eines neuen Umhangs aus Dunkelseide, den Saika ihm mitgebracht hatte, folgte Macay ihr durch die Stadt bis zu einem Gebäude in der Nähe des Gefängnisses. Von hier aus starteten sie die Befreiungsaktion.
„Die Kerker des Gefängnisses liegen unterirdisch“, erklärte Saika. „Deshalb werden wir auch unter der Erde versuchen, die Gefangenen zu befreien.“
„Einen Tunnel graben?“
„So etwas Ähnliches. Du wirst schon sehen. Komm jetzt mit in den Keller.“
Sie kletterten durch eine Falltür in den Untergrund. Dort fanden sie gewöhnliche Kellerräume vor, in denen Vorräte und Gerümpel lagerten. Doch in einer Ecke, gut getarnt, führte ein Loch in der Kellerwand in einen Gang. Das Loch war klein, Macay hatte Mühe, sich hindurchzupressen. Der Gang dahinter erlaubte nur, sich auf Knien rutschend vorwärts zu bewegen. Es ging schräg nach unten. Wie weit, vermochte Macay nicht abzuschätzen. Dann sagte Saika, die vor ihm war, leise: „Vorsicht, fallenlassen.“
Im nächsten Moment spürte Macay, wie seine tastenden Hände ins Leere griffen, und er fiel. Nicht tief, aber ungelenk, weil er nicht darauf vorbereitet war. Entsprechend schmerzhaft war die Landung.
„Jetzt können wir Licht machen“, sagte Saika. Sie entzündete eine Öllampe und half Macay auf die Beine.
Der Tunnel, in dem sie standen, war übermannshoch und breit genug, um bequem darin zu gehen. Er war jedoch im Querschnitt wesentlich schmaler als hoch, so dass nicht zwei Menschen nebeneinander stehen konnten. Die Wände bestanden aus Sand und Kies, waren aber glatt, als wäre eine durchsichtige Glasur auf sie aufgetragen worden.
„Wo sind wir?“, fragte Macay, während er sich umsah.
„In den Gängen eines Morrows. Aber keine Angst, er ist tot. Wir können uns also frei bewegen. Zumindest, solange kein lebender Morrow die Gänge entdeckt und in Besitz nehmen will.“
„Was ist ein Morrow?“
„Stell dir eine glibberige, schwarze Blase vor, die genau in diesen Gang passt. Seine Haut scheidet Säure aus, die glättet die Wände. Der Morrow hat keine bestimmte Form, sondern passt sich an die Erfordernisse an. Er kann Arme und Hände ausbilden, wenn er sie braucht, er kann sich aber auch vorübergehend so dünn machen, dass er wie eine lange, schwarze Schlange durch das dünnste Loch passt.“
„Und er ist vermutlich, wie alles auf dem Nebelkontinent, extrem gefährlich“, sagte Macay, während er hinter Saika herging.
„Wie man es nimmt. Er ist eigentlich Aasfresser. Wenn ein größeres Tier auf der Erdoberfläche stirbt, kommt der Morrow hoch, bildet Greifarme und frisst den Kadaver. Aber wenn er Hunger hat, greift er schon mal von sich aus an. Und natürlich wird er ziemlich wütend, wenn er jemanden in seinen Gängen erwischt.“
„Er kommt wie ein schwarzer, kalter Schatten aus der Erde.“
„Ja, genau. Hast du schon einen gesehen?“
„Ich glaube, ja. Als mir Rall demonstriert hat, wie der Nebelkontinent auf unerwünschte Menschen reagiert.“ Macay schüttelte sich und wechselte das Thema. „Führt dieser Gang zum Gefängnis? Dann müssten wir doch eigentlich schon da sein.“
„Nein, wir sind tiefer. Die Kerkerzellen befinden sich über uns.“ Saika zeigte zur Decke. „Wir gehen zu einer Stelle, an der dieser Gang bis an den Boden des Gefängnisses heranreicht. Dort hat der Morrow einmal einen gestorbenen Gefangenen erspürt und ein Loch in den Boden des Gefängnisses gefräst.“
„Und dort brechen wir durch?“
„Der Handwerker, der damals das Loch des Morrows wieder zugemauert hat, ist ein Freund von mir. Er hat es so gemacht, dass man es von unten leicht aufstemmen kann.“
„Und wenn oben Wachen stehen?“
„Die verscheuchen wir. Damit.“ Saika zog einen faustgroßen Lederbeutel aus ihrer Umhängetasche, an dessen Öffnung ein kleines Holzteil befestigt war. Sie drückte die Luft aus dem Beutel, und das Holzteil erzeugte einen tiefen, beunruhigenden Ton. „Der Ruf eines Morrows. Wir werden es später noch einmal benutzen. Jetzt sorgen wir erst einmal dafür, dass oben jeder, der sich in der Nähe aufhält, alles stehen und liegen lässt und davon läuft.“
Saika blies Luft in den Ledersack und ließ dann etliche Male den durchdringenden Laut ertönen.
„So, das dürfte genügen. Wenn die oben nicht taub sind, haben sie es gehört.“ Sie nahm eine kleine Hacke, die in dem Gang bereitstand, und schlug damit gegen die Stelle an der Decke, die kein Gestein, sondern Mauerwerk zeigte. Es war eine mühsame Arbeit, weil sie über Kopf schlagen musste, aber sie ließ nicht zu, dass Macay ihr half. Schließlich entstand ein Loch. Ein weiterer, wohl gezielter Schlag, und Steine regneten herunter.
Mit einem Sprung brachte Saika sich in Sicherheit. „Das war der schwierige Teil“, sagte sie. „Jetzt wird‘s einfach. Hilf mir hoch.“
Macay half ihr, nach oben durch das Loch zu klettern. Anschließend streckte Saika den Arm herunter und zog ihn zu sich hoch. Sie war erstaunlich kräftig, es schien sie nicht einmal anzustrengen.
Sie befanden sich in einer engen Zelle. „Hoffentlich hat niemand den Krach gehört, den du gemacht hast“, sagte Macay besorgt.
„Wenn alles geklappt hat, läuft oben gerade der Scheinangriff über die Mauer. Und falls doch ein Wächter hier unten gewesen sein sollte, dann rennt er jetzt um sein Leben, weil er meint, ein Morrow sei dabei, wieder durchzubrechen.“
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