Macay war durch das Verteilen der Zeitungen zu einem bekannten Gesicht in der Stadt geworden. Menschen grüßten ihn in den Gassen und immer wieder wurde er sogar gefragt, ob es etwas Neues gebe, zum Beispiel über Zzorg und Rall. Leider musste er diese Fragen immer verneinen. Auch zu seinem eigenen Bedauern.
Er kehrte noch einmal zu dem Treffpunkt zurück, den er mit Zzorg ausgemacht hatte, wieder erfolglos. Öfter aus der Stadt zu gehen, wagte er nicht, um die Stadtwachen nicht misstrauisch zu machen. Macay blieb nun nichts anderes übrig, als sich voll auf die Frage zu konzentrieren, ob Rall wirklich im Gefängnis saß und wie er ihn gegebenenfalls befreien konnte - und zwar ohne Zzorgs Hilfe.
Saika, das blonde Mädchen, sah Macay in dieser Zeit nicht mehr, auch auf seinen Botengängen durch die Stadt nicht. Er hielt zwar die Augen offen, aber sie schien aus der Stadt verschwunden zu sein. Schließlich fragte er Elkmar nach ihr.
„Sie wird sich melden, wenn sie mit dir reden möchte“, sagte der nur und wandte sich wieder seiner Druckerpresse zu.
Macay ging also Tag für Tag seiner Arbeit nach und unterhielt sich mit Elkmar über die Geschichte von Heimstadt. Er ließ sich die Gerüchte erzählen, die über die verschiedenen Gegenden des Nebelkontinents in Umlauf waren. Auch über die Zukunftsaussichten des Kontinents sprachen sie, falls die Kaiserlichen wirklich ein Elixier hatten, das ihn ungefährlich machte.
Eines Abends, Macay hatte sich schon in seinen Verschlag zurückgezogen, stand Saika vor ihm. Macay sprang auf und bestürmte sie mit Fragen. Doch sie legte den Finger auf die Lippen und bedeutete ihm, ihr zu folgen.
Sie gingen durch die dunkle Stadt, in der nur noch Liebespaare und angetrunkene Kneipenbesucher unterwegs waren, bis vor das Rathaus. Dort waren im ersten Stock die Fenster erleuchtet. Saika streifte ihren dunklen Umhang über und gab auch Macay einen. So getarnt drückten sie sich in einen dunklen Hauseingang.
„Heute Nacht soll im Gefängnis etwas geschehen“, flüsterte Saika. „Der Bürgermeister hat Besuch. Fremde sollen heimlich in die Stadt gekommen sein und sich jetzt im Rathaus aufhalten. Wollen mal schauen, was sie vorhaben.“
Sie brauchten nicht lange zu warten. Die Tür des Rathauses öffnete sich und zwei Wachmänner kamen heraus. Ihnen folgten der Bürgermeister und zwei vermummte Gestalten. Die Wachmänner entzündeten Fackeln, dann gingen die fünf Personen wie eine kleine Prozession die Straße entlang zur südlichen Stadtmauer, wo sich das Gefängnis befand.
Macay und Saika folgten ihnen in einigem Abstand. Am Gefängnis angekommen, suchten sie sich ein Versteck, von dem aus sie den Eingang beobachten konnten. Der Bürgermeister und seine Begleiter verschwanden durch das Gefängnistor.
„Und nun?“, wollte Macay wissen. „Irgendwann werden sie wieder herauskommen und dann war‘s das.“
„Warte ab“, sagte Saika nur.
In ihrer Nähe ertönte ein leiser Pfiff. Saika antwortete ebenfalls mit einem Pfiff. Aus einer Gasse kamen gleich darauf mehrere Betrunkene gewankt, die Flaschen in den Händen hielten und laut grölten. Sie gingen auf die Wachen vor dem Gefängnis zu und versuchten, denen die Flaschen aufzudrängen. Die Wachen lehnten aber stur ab. Ein Streit entwickelte sich.
„Los, jetzt sind wir dran!“, sagte Saika zu Macay. Sie schlich entlang der Hauswände auf den Eingang des Gefängnisses zu. Dabei duckte sie sich und zog die Kapuze ihres Umhangs so tief ins Gesicht, dass kein heller Fleck mehr an ihr zu sehen war.
In drei Schritten Abstand hatte selbst Macay Mühe, sie zu erkennen. Er folgte ihr so vorsichtig wie möglich.
Der Streit vor dem Gefängnistor eskalierte zu einer handfesten Keilerei. Macay und Saika konnten deshalb unbeobachtet durch das Tor flitzen, das hinter dem Bürgermeister nicht wieder abgeschlossen worden war. Sie gelangten in einen düsteren Innenhof.
„Hier oben sind nur die Büros und die Aufenthaltsräume der Wachen“, flüsterte Saika. „Die Kerker sind alle unterirdisch. Dort drüben steht übrigens der Galgen.“
Schaudernd starrte Macay durch die Dunkelheit auf die Silhouette des Holzgerüsts, an dem die Schlinge langsam im Wind baumelte.
„Früher hat man die Leute draußen vor dem Stadttor aufgeknüpft“, erzählte Saika, während sie sich in dem stillen Innenhof umsah. „Aber das hat manchmal Ärger gegeben, deshalb macht man es jetzt hier im Verborgenen. Dort drüben!“ Sie deutete auf ein erleuchtetes Fenster in einem Gebäude, das direkt an die Stadtmauer angebaut war. Es war niedrig, langgezogen und hatte mehrere Türen.
„Beachte die Mauer, die über das Dach hinausragt“, sagte Saika. „Sie ist rissig. Die Stadtmauer von Heimstadt ist rund drei Schritte dick, aber sie wurde nicht von gelernten Handwerkern erbaut. Deshalb muss sie immer wieder nachgebessert werden.“
„Warum erzählst du mir das jetzt, wo wir jeden Moment entdeckt werden können?“, fragte Macay genervt.
„Dummkopf. Denk darüber nach. Weiter jetzt.“
Macay verkniff sich eine Antwort. Unbemerkt erreichten sie das erleuchtete Fenster. Macay warf einen Blick hinein und sahen einen gefesselten und ziemlich wüst zugerichteten Katzmenschen, vor dem der Bürgermeister, mehrere Wachleute und die beiden Unbekannten standen.
„Rall“, rutschte es Macay laut heraus.
„Leise!“, fuhr Saika ihn an. „Ich will nicht wegen dir am Galgen enden.“
Leider konnten sie durch das verschlossene Fenster nicht hören, was drinnen besprochen wurde. Ganz vorsichtig näherte sich Saika der Eingangstür und versuchte sie zu öffnen. Es gelang ihr, aber im nächsten Moment hörten sie den Bürgermeister und seine Begleiter kommen. Wieselflink rannte Saika in eine dunkle Ecke.
Macay, der nicht schnell genug reagierte, warf sich zu Boden und drückte sich fest gegen die Wand des Gebäudes. Wenn niemand direkt in seine Richtung sah, konnte er hoffen, unbemerkt zu bleiben.
Zu seinem Glück gingen die beiden Wachmänner mit den Fackeln schnell voraus zum Tor. Bürgermeister Dickmann blieb dagegen stehen und unterhielt sich mit den beiden Vermummten.
„Er ist stur“, sagte der Bürgermeister. „Kein Wort über seine Komplizen oder ihre Absichten.“
„Foltert ihn“, forderte einer der beiden Vermummten mit tiefer Stimme.
„Schon geschehen, jedenfalls ein wenig. Mehr wage ich nicht anzuordnen. Wenn er stirbt und es kommt heraus, könnte mich das mein Amt kosten. Schließlich ist er trotz allem berühmt auf dem Nebelkontinent.“
„Tötet ihn, falls notwendig“, widersprach die tiefe Stimme. „Was er uns nicht sagen will, kann uns Zzorg sagen.“
„Dazu müssten wir ihn erst haben.“ Dem Bürgermeister war hörbar unwohl bei den brutalen Vorschlägen dieses Mannes.
„Morgen geht er uns in die Falle.“ Das klang wie eine Feststellung, an der es nichts zu rütteln gab.
„Nehmt ihr die beiden dann mit?“
„Nein. Es ist sicherer, sie hier im Kerker zu lassen. Sie bleiben, bis wir auch den Jungen haben. Dann sehen wir weiter.“
„Und sorgen Sie dafür, dass hier mehr Wachen sind“, mischte sich nun eine andere Stimme ein. „Rall und Zzorg sind gefährlich.“
Diese Stimme kannte Macay. Er überlegte, wo er sie schon einmal gehört hatte. Nicht hier in der Stadt, es musste länger her sein. Wer war das gewesen? Macay grübelte so lange über diese Frage, dass ihm der Rest des Gesprächs entging. Der Bürgermeister und seine Begleiter gingen weiter zum Tor, wo die Wachmänner mit den Fackeln warteten, und verließen dann das Gefängnis.
Saika rannte zu Macay. „Los, hinterher. Sonst werden wir hier eingesperrt.“
Sie erreichten das Tor des Gefängnisses gerade, als davor die Wächter strammstanden.
Der Bürgermeister musterte die Wachleute. „Wie seht ihr denn aus!“, schnauzte er sie an. „Saubere, ordentliche Uniform ist Vorschrift im Dienst.“
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