Elkmar konnte die Geschichte nur von dem Mann haben, der ihn besucht hatte. Vermutlich ein Bewohner Eszgers, der nach Heimstadt gekommen war. Das würde auch erklären, warum Macay dessen Gesicht bekannt vorkam. „Tolle Geschichte“, sagte Macay möglichst unverfänglich. „Passiert so etwas öfters?“
„Nein. Deshalb wird es für erhebliche Aufregung in der Stadt sorgen. Hast du Fehler darin gefunden?“
„Keine“, behauptete Macay. „Aber warum werden Zzorg und Rall so als Helden herausgestrichen? Sind sie etwas Besonderes?“
„Lies weiter. Auf der zweiten Seite, im Kasten“, forderte Elkmar ihn auf.
Macay tat es und las folgenden Artikel unter der Überschrift: „Zzorg und Rall.“
„Allen Bewohnern des Nebelkontinents, die schon länger hier leben, sind diese Namen ein Begriff. Doch allen Neubürgern zur Erklärung hier noch einmal ein paar Worte über die beiden heldenhaften Gestalten:
Zzorg ist ein Echsenmann aus dem tiefen Süden unseres Kontinents. Er wurde als Krieger erzogen und erkundete später während seiner Wanderjahre die Welt. Dabei entdeckte und entwickelte er seine Fähigkeiten in der Feuermagie. Obwohl er kein geborener Magier ist, erlangte er einen Grad an Beherrschung der Feuermagie, der sehr selten ist. Sein Können als Kämpfer und Magier setzte er vielfältig zum Schutz der Bewohner des Nebelkontinents ein.
Rall ist ein Katzmensch, der in einem Dorf wenige Tagereisen nördlich von Heimstadt geboren wurde. Von einem der ersten kaiserlichen Elitetrupps, die den Nebelkontinent durchstreiften, wurde das Dorf in Ralls Jugend zerstört - versehentlich, wie später behauptet wurde. Rall bildete sich zu jener Zeit gerade zum Heiler aus, wurde aber durch dieses Erlebnis, bei dem seine Eltern und alle seine Verwandten starben, so erschütterte, dass auch er begann, die Kampfkünste zu studieren. Viele Jahre lang durchstreifte er den Norden, bis er ein ausgezeichneter Heiler und Kämpfer war.
Bei der Belagerung der Katzmenschen-Siedlung Ragorr durch Hunderte tollwütig gewordener Trollbären - die Tollwut soll vom Kaiserlichen Kontinent bei uns eingeschleppt worden sein - trafen Zzorg und Rall zum ersten Mal zusammen. Nachdem die riesigen Bären in einem schrecklichen Kampf besiegt waren, beschlossen die beiden, künftig gemeinsam die Geheimnisse des Nebelkontinents zu erforschen. Ihrer Abenteuer sind so viele, dass wir sie hier nicht auflisten können. Jeder, der eine Weile unter uns lebt, hat von ihren Taten gehört.
Vor einigen Jahren nun verschwand Rall auf mysteriöse Weise. Zzorg suchte lange nach seinem Partner, gab aber schließlich auf und zog alleine weiter. Es wurde allgemein vermutet, Rall könnte, wie anderen Katzer auch, als Zwangsarbeiter in den Lassach-Feldern der Kaiserlichen gelandet sein, wo immer Bedarf an Arbeitskräfte herrscht.
Es ist ein Glück für alle Bewohner des Nebelkontinents, diese beiden Helden nun wieder vereint zu wissen, denn es gibt noch viele Gefahren, bei deren Bewältigung wir ihre Hilfe dringend benötigen werden.
Nachtrag: Vom Bürgermeisteramt wurde kürzlich ein Steckbrief herausgegeben, in dem nach einem Echsenmann und einem jungen Menschen gesucht wird. Gerüchte behaupten, mit dem Echsenmann sei Zzorg gemeint. Alle, die ihn von früher kennen, wissen, dass er niemals ein Verbrechen begehen würde. Wir hoffen, dieser Irrtum klärt sich schnell auf. Dann können wir vielleicht bald schon Zzorg und Rall in den Mauern unserer Stadt willkommen heißen!“
„Beeindruckend, nicht wahr?“, brach Elkmar schließlich Macays Schweigen.
„Ja, wirklich. Was ist, wenn das mit dem Steckbrief kein Irrtum ist und der Bürgermeister wirklich Zzorg verhaften will?“
„Eine schwierige Situation. Es gibt Neubürger in der Stadt, die weder Zzorg noch Rall von früher kennen, und es gibt Alteingesessene, die den Versprechen des Kaisers glauben und bereit sind, für seine Elixiere auch ihre Freunde zu verraten. Aber Zzorg und Rall sind bewährte Kämpen, denen wird sicherlich etwas einfallen, sollten sie von den Häschern des Bürgermeisters gestellt werden.“
„Im Steckbrief war nur von einem Echsenmann und einem Menschen die Rede ...“ Macay unterbrach sich und überlegte, wie er seine Gedanken möglichst unverfänglich formulierte, bevor er fortfuhr. „... wo ist dann Rall?“
„Ich verstehe, was du meinst.“ Elkmar machte ein ernstes Gesicht. „Das könnte darauf hindeuten, dass Rall bereits im Gewahrsam des Bürgermeisters ist, nicht wahr? Oder möglicherweise sogar tot. Eine schlimme Situation. Sehr schlimm. Man sollte wirklich Erkundigungen einziehen. Weißt du, in so einer Stadt bleibt normalerweise nichts geheim. Aber seit der Bürgermeister mit seiner Clique die Herrschaft übernommen hat, dringen immer weniger Gerüchte aus seinem inneren Zirkel an mein Ohr.“
„Vielleicht können Sie einen Artikel schreiben, in dem sie fragen, ob jemand Rall in der Stadt gesehen hat?“, schlug Macay vor.
„Ich glaube, diese Ausgabe des ‚Stadtboten‘ wird schon genug Bewegung in die Stadt bringen. Die Bürger werden über die Ereignisse in Eszger diskutieren, und wenn man da ein offenes Ohr hat, fällt bestimmt die eine oder andere Bemerkung ab, die für uns interessant sein könnte.“
„Für uns?“, fragte Macay überrascht.
„Ja, schließlich bist du jetzt mein Helfer. Ich rede natürlich von Informationen, die für die Zeitung wichtig sind.“
„Ach, so.“
Das Gefängnis
Am folgenden Morgen wurde die Zeitung in aller Frühe gedruckt und, nachdem die Druckerschwärze getrocknet war, geschnitten und gefaltet. Dann machte sich Macay mit einem großen Stapel auf dem Arm auf den Weg, um sie an die Abonnenten auszuliefern. Elkmar gab ihm dazu einen Zettel mit den Namen und Anschriften der Leute. Da für die Zeitung nur alle sechs Monate bezahlt werden musste, brauchte Macay nicht kassieren. Er bekam ab und zu eine Münze als Trinkgeld zugesteckt, manchmal auch etwas zu essen. Drei Mal kehrte er in die Druckerei zurück, um weitere Exemplare zu holen. Erst am späten Abend war er mit dem Verteilen fertig.
Und dann fuhr ihm im letzten Moment vor dem Einschlafen plötzlich der eisige Schreck durch die Glieder: Er hatte völlig vergessen, sich bei Zzorg draußen vor der Stadt wie vereinbart zu melden. Am liebsten wäre Macay aufgesprungen und los gerannt. Aber wie er inzwischen wusste, waren die Stadttore nachts geschlossen.
Am nächsten Morgen verließ er gleich nach Sonnenaufgang die Stadt. Er überzeugte sich, dass er nicht beobachtet oder verfolgt wurde, dann ging er zu dem Treffpunkt, den er mit Zzorg ausgemacht hatte. Wie erwartet war Zzorg nicht da. Allerdings gab es auch keine Spuren eines Kampfes. Zzorg war also vermutlich noch in der Nähe und nicht den Kaiserlichen oder den Leuten des Bürgermeisters in die Hände gefallen. Besorgt und beschämt kehrte Macay in die Stadt zurück.
An diesem Tag ging er mit einem Stapel Zeitungen durch die Stadt und verkaufte die Exemplare einzeln an Passanten. Die Zeitungen wurden vorher von Elkmar abgezählt, und jedes Mal, wenn Macay in die Druckerei zurückkam, musste er das eingenommene Geld abliefern. Der Drucker rechnete dann nach. Blieb etwas übrig, so durfte Macay es als Trinkgeld behalten. Zu seinem Glück war das fast immer der Fall. Zwei Tage machte er das, und als er schließlich fertig war, hatte er einen kleinen Beutel voller Münzen beisammen.
Elkmar druckte derweil weitere Auflagen des ‚Stadtboten‘. Diese Exemplare wurden von Reisenden zu den Bergwerkssiedlungen und in die größeren Dörfer in der Umgebung von Heimstadt gebracht. „Die Zeitung verkauft sich besser als je zuvor“, sagte er händereibend, als die letzten Exemplare weg waren. „Die Menschen sind hungrig nach Neuigkeiten. Daraus kann man schließen, dass sie nicht sehr zufrieden sind mit der allgemeinen Entwicklung. Und das heißt, mit dem Bürgermeister.“
Читать дальше