Der Flößer zischte etwas und Zzorg übersetzte: „Es stimmt. Flößer sind vor vielen Jahren sogar ein Stück weit in den unterirdischen Fluss hineingefahren. Sie sind nie zurückgekehrt.“
„He, seit wann versteht der, was wir reden?“, rief Macay überrascht.
Rall blieb gelassen. „Er traut uns noch weniger als wir ihm“, sagte er. „Also hat er sich bisher dumm gestellt. Hätte ich an seiner Stelle auch getan.“
Macay war da anderer Ansicht und beobachtete den Flößer nun mit großem Misstrauen. Der wandte der Gruppe jedoch weiter stoisch den Rücken zu und stakte mit seinen Stecken unermüdlich den Fluss hinauf.
Der Weg nach Heimstadt
Am folgenden Tag ließ das gute Wetter sie im Stich. Eine alles durchdringende Feuchtigkeit nieselte vom Himmel. Im Laufe des Vormittags frischte der Wind auf. Immer dunklere Wolken erschienen am Horizont.
„Kein Problem hier auf dem Wasser“, erklärte Rall. „Wir haben keine Segel und der Fluss wird nie so vom Sturm aufgewühlt, dass man mit dem Floß nicht mehr fahren kann.“
„Wir werden sehen“, sagte Zzorg düster.
Macay sah ihn verwundert an. Doch Zzorg sagte nichts mehr. Er saß am Rand des Floßes und starrte das vorübergleitende Ufer an.
„Wir fahren jetzt in einen dichten Wald“, fuhr Rall fort. „Morgen erreichen wir fettes Weideland, wo Bauern ihre Höfe haben. Sie züchten Vieh, wenn auch nur in kleinen Stückzahlen, um nicht Raubtiere anzulocken.“
„Grellvögel, zum Beispiel.“
„Ja. Eine Rinderherde wäre ein gefundenes Fressen für sie. Aber Schafe, die über eine große Fläche verteilt weiden, oder einzelne Rinder locken sie nicht von ihren Felseninseln so weit aufs Festland. Die Bauern versorgen Heimstadt, wo viele Handwerker leben, und die Bergbausiedlungen im Gebirge. Es funktioniert ganz gut, die Gegend ist wohlhabend. Die Stadt beliefert den ganzen Kontinent mit Metallwaren. Es ist übrigens die einzige große Stadt auf dem Kontinent, alles andere sind Dörfer und kleinere Siedlungen. Nur die karolische Hafenstadt Port Hadlan kommt ihr an Größe nahe.“
Der Wind wurde zum Sturm und brachte erst heftigen Regen, dann Hagel mit sich. Ein Gewitter gesellte sich dazu, wütete aber weiter nördlich. Die drei Passagiere auf dem Floß krochen noch einmal unter die Decke, die sie vor den Grellvögeln geschützt hatte. Der Flößer blieb unbeirrt auf seinem Platz. Macay hatte sich inzwischen an den strengen Geruch der Ratten so gewöhnt, dass er ihn gar nicht mehr bewusst wahrnahm. Er fand es gemütlich unter der Decke, wo er warm und trocken lag und spürte, wie die Hagelkörner, die zum Glück nicht groß waren, auf seinen Rücken trommelten.
Ein lautes Krachen ließ ihn dann aber hochfahren und die Decke von sich werfen. Nicht weit vor dem Floß war ein großer Baum umgestürzt und quer über den Fluss gefallen. Der Baum reichte zwar nicht bis ans andere Ufer, versperrte aber doch dem Floß den Weg.
„Wurde er vom Blitz getroffen?“, schrie Rall gegen den Wind in Richtung Flößer.
Der zischte etwas und ließ sein Floß von der Strömung ein Stück weit von dem Hindernis wegtreiben, bevor er es zum Stillstand brachte.
„Was nun?“, fragte Macay. „Kann man die Ratten einfach am Ufer entlang marschieren lassen?“
„Im Notfall: ja. Aber die Wege an Land sind nicht so breit wie das Floß, man muss die Ratten also losbinden und sie alle an einem langen Seil befestigen, damit sie nicht abhauen. Das dauert einen halben Tag, mindestens. Aber der Zeitverzug ist nicht die eigentliche Gefahr.“
„Was sonst?“
„Wenn der Sturm so stark ist, dass er Bäume in den Fluss stürzen lässt, dann müssen wir mit Treibgut rechnen. Und ein Baumstamm, der uns in der Flut entgegen kommt, kann das halbe Floß totschlagen. Ich bin gespannt, was der Flößer nun unternimmt.“
Der stand jedoch zunächst nur da und starrte unter seiner Kapuze hervor auf den Fluss und das Hindernis. Dann drehte er sich plötzlich um. Zum ersten Mal sah Macay das entstellte Echsengesicht im Schatten der Kapuze, als der Flößer laut „Runter!“ brüllte und sich flach auf das Floß fallen ließ.
Macay starrte verwundert den zu seinen Füßen liegenden Flößer an, als direkt neben ihm ein Pfeil in den Rücken einer der Ratten fuhr. Macay ließ sich ebenfalls fallen, während Rall in die Knie ging und seinen Bogen spannte. Doch Rall sah kein Ziel im Blätterwerk des umgestürzten Baumes. Zzorg blieb aufrecht stehen und ließ einen Feuerball auf die Baumkrone über dem Fluss los, in der sich der Bogenschütze offenbar versteckt hatte. Ein Pfeil zischte haarscharf an ihm vorbei. Das Feuer, das in der Baumkrone für einen Moment hell aufloderte, wurde schnell erstickt. Die Blätter waren nass, und den Rest erledigte der Regen, der nun den Hagel wieder abgelöst hatte.
Das Floß trieb mit der Strömung weg von der gefährlichen Stelle, als es von einem weiteren Pfeil getroffen wurde. Diesmal starb eines der beiden Leittiere, auf deren Rücken der Flößer sonst stand. Das löste unter den Ratten Panik aus und führte zu unkontrollierten Bewegungen, die das Floß rotieren ließen. Rall konnte nicht mehr zielen.
Dann war das Floß außer Schussweite. Der Flößer stand auf und nahm seine Position an der Spitze wieder ein, wobei er jedoch nur einen Fuß auf die noch lebende Leitratte stellte, den anderen auf dem Floß ließ. In dieser Spreizstellung gelang es ihm, das Floß ans nördliche Ufer des Flusses zu dirigieren, wo es liegenblieb.
Er zischte laut und erregt, während er die tote Leitratte untersuchte. Wütend schnitt er sie los und warf ihren Kadaver an Land. Dann fauchte er Zzorg an, ohne darauf zu achten, dass der sein Gesicht sehen konnte, und marschierte in den Wald hinein.
„Er will die Ratte rächen“, übersetzte Zzorg verblüfft. „Wir müssen ihm folgen. Alleine rennt er in sein Unglück. Wir wissen ja nicht einmal, wer es da auf uns abgesehen hat.“
„Die Kaiserlichen, wer sonst“, sagte Macay. Er zog das Schwert aus der Scheide, nahm seinen Rucksack vom Floß und war bereit, dem Flößer zu folgen.
Nach kurzem Zögern taten es ihm Rall und Zzorg nach. Gemeinsam gingen sie hinter dem Flößer her durch den ufernahen Wald nach Westen zu dem umgestürzten Baum.
Es war ein kurzer Marsch, wobei der Flößer keinerlei Vorsicht walten ließ. Der Tod der Ratte hatte ihn so in Rage versetzt, dass ihm alles egal war. Er bahnte sich den Weg durch das Unterholz des Waldes, bis der gestürzte Baum zu sehen war. Dann blieb er stehen.
Der Baum war nicht vom Sturm umgeworfen, sondern gefällt worden. Jemand hatte mit einer Axt den mächtigen Stamm fachkundig und präzise umgehauen und genau über den Fluss fallenlassen. Ängstlich sah Macay sich um. Er erwartete, jeden Moment einen Trupp kaiserlicher Soldaten aus dem Dunkel des Waldes kommen zu sehen. Aber es blieb alles ruhig.
Der Flößer ging weiter auf den Baum zu und kletterte auf den umgefallenen Stamm. Kaum stand er dort, kam ein Pfeil aus der Baumkrone, die vor ihm über dem Fluss hing. Der Pfeil durchschlug glatt die Brust des Flößers und warf ihn auf den Rücken. Im nächsten Moment kam auch schon der nächste Pfeil, der Macay streifte, aber zum Glück an seiner kräftigen Lederrüstung abglitt. Nun schoss auch Rall Pfeile ab und Zzorg ließ einen weiteren Feuerball los. Macay ging in Deckung. Er hatte keine Fernwaffe und konnte folglich bei diesem Kampf nicht helfen.
Weitere Pfeile kamen aus dem Blattwerk mitten im Fluss, aber der Abstand, in dem sie aufeinanderfolgten, ließ darauf schließen, dass es sich nur um einen Schützen handelte. Zzorg und Rall kletterten nun ebenfalls auf den Stamm, nachdem Zzorg noch einmal einen Feuerball abgeschossen hatte.
Doch der scheinbar tödlich getroffene Flößer kam ihnen zuvor. Er stand auf, riss sich den Pfeil aus der Brust und sprang in einem Riesensatz den Baumstamm entlang zum Versteck des Bogenschützen.
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