„Ich weiß. Ich komme selbst von dort.“
Perret schwieg.
Es war wie eine Aufforderung an Macay, der schließlich fortfuhr: „Ich muss auch zu den Brückeninseln. Meine Eltern suchen. Ich komme mit dir.“
„Klingt nicht begeistert.“
„Ich habe Angst vor der Fahrt auf dem Schiff. Das liegt mir nicht“, gab Macay zu.
„Memme!“, sagte Perret hart. „Willst du mit oder nicht?“
„Ich komme mit.“
„Dann beeil dich. Ich habe Vorräte für mich selbst zusammengeschnorrt, Geld habe ich keines. Wir müssen uns auf eine einwöchige Schiffsreise vorbereiten, auf der wir kaum etwas zu Essen finden werden. Wir können froh sein, wenn wir genügend Wasser haben, um nicht zu verdursten.“
„Wieso das?“
„Was glaubst du, wie blinde Passagiere reisen? Als Gäste, die am Tisch des Kapitäns speisen? Also los, besorge dir haltbare Vorräte, Waffen, Bekleidung. Etwas Geld kann auch nicht schaden. Genauer gesagt: soviel du bekommen kannst. In einer Stunde treffen wir uns vor dem Tor.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, ging Perret davon.
Es war nicht schwer für Macay, sich die notwendigen Dinge zu beschaffen. Ausrüstung und Waffen besaß er, Vorräte verkaufte ihm ein Händler, den er aus dem Schlaf riss, und mehr Geld bekam er von Mirjam. Sie nahm es aus der Kasse des Rats, aus den Steuern der Stadt also.
„Wir haben nicht vergessen, dass du Eszger von einem Dämon befreit hast“, sagte sie, als sie ihm den Beutel mit Goldstücken aushändigte. „Ich wünsche dir viel Glück auf deiner Reise.“
Macay hielt schweigend den faustgroßen Beutel in den Händen. Er spürte, wie peinlich die Situation für Mirjam war. Die große, dunkle Frau wollte nicht auf das Verschwinden von Rall und Zzorg zu sprechen kommen, wusste aber, dass es sich kaum vermeiden ließ.
„Danke“, sagte er, wandte sich ab und ging. Auch Mirjam schien zu glauben, seine Freunde hätten gut daran getan, ihn – den sechzehnjährigen Jungen, der nicht vom Nebelkontinent stammte – von ihren weiteren Abenteuern auszuschließen.
Macay traf zur vereinbarten Zeit Perret am Tor, das die Wache extra für sie noch einmal einen Spalt weit öffnete.
Es war dunkel vor den Palisaden des Ortes. Den Himmel bedeckten Wolken, die schnell vorüberzogen, wie an dem hellen Fleck erkennbar war, der den Mond verbarg. Am Boden war dagegen noch kaum ein Wind zu spüren.
„Sturm im Anmarsch“, sagte Perret. „Aber wir haben keine andere Wahl, wir müssen weg. Hast du herumerzählt, wo wir hin wollen?“
„Nein. Ich glaube, das hätte auch niemanden interessiert.“
„Gut. Wir müssen immer damit rechnen, dass jemand zu neugierig ist und etwas ausplaudert. Falls Spione der Kaiserlichen auftauchen, meine ich.“
„Ich kann mir nicht vorstellen, dass Spione der Kaiserlichen in Eszger sind. Jeder kennt hier jeden.“
„Trau niemandem, erst recht nicht Leuten, die du gut zu kennen glaubst. Zumindest nicht, wenn es auf Leben und Tod geht. Wohin?“
„An die Küste, diesmal nördlich vom Lager. Wir müssen zunächst auf die andere Seite des Flusses. Westlich von Eszger hat man eine einfache Holzbrücke über das ehemalige Flussbett des Pil gebaut.“
„Geh voran.“
In der Dunkelheit war es nicht einfach, auf dem Weg zu bleiben. Mehrmals stieß Macay gegen die Begrenzungssteine, mit denen man den unbefestigten Weg versehen hatte. Perret schwieg und folgte ihm so dicht, dass sie sich immer wieder berührten oder Perret gegen Macay stieß, wenn der unerwartet stehenblieb.
Beide hatten an ihren Rucksäcken und Ledertaschen schwer zu tragen. Schließlich erreichten sie die Brücke, die doch nur wenige hundert Meter vom Ort entfernt war. Macay zweifelte, ob er in der Lage war, das Gepäck einen Tag lang durch den Dschungel zu schleppen.
„Ich hoffe, diese Gegend ist nachts ungefährlich“, sagte Perret, als sie für einen Moment ihre Last absetzten.
„Der Nebelkontinent ist nie ungefährlich“, behauptete Macay. Natürlich war Angeberei dabei, aber immerhin hatte er auf diesem Stück Erde schon viele Abenteuer überstanden. „Aber meistens meiden die Tiere uns Menschen.“
„Dann werden wir es genauso machen und die Tiere meiden. So ist allen gedient und wir kommen schneller voran. Worauf wartest du?“
Macay hatte eben seinen Rucksack wieder aufgenommen, aber er ließ ihn langsam wieder zu Boden gleiten. „Leise!“, forderte er Perret auf.
„Was ist?“, fragte der in normaler Lautstärke.
Flüsternd antwortete Macay. „Da ist etwas auf der anderen Seite der Brücke.“
„Los, gehen wir hinüber und töten es.“ Perret ließ ebenfalls sein Gepäck wieder zu Boden gleiten und zog sein Schwert.
Macay hätte in der Dunkelheit beinahe in die Klinge gefasst, als er die Hand ausstreckte, um Perret zurückzuhalten. „Hörst du es nicht? Das sind Stimmen.“
„Ich höre nichts.“
„Jemand kommt über die Brücke. Weg hier.“ Mit der einen Hand packte Macay Perret an der Lederjacke, mit der anderen zog er sein eigenes Gepäck. So gelangten sie fast geräuschlos ein paar Meter auf die Seite.
Nun konnten sie deutlicher hören, wie mehrere Personen langsam die Holzbrücke überquerten, die unter ihren Schritten knarrte. Danach klangen laute Schläge auf dem Holz. Das waren die Hufe eines Pferdes oder Esels, vermutete Macay.
Perret hatte den Ernst der Lage inzwischen verstanden. Nachts in einem fremden Land, in fast völliger Finsternis, waren Leute unterwegs, die sich offenbar ebenfalls bemühten, leise zu sein. Das konnte nur Ärger bedeuten.
Macay nahm an, dass es sich um eine Gruppe Menschen mit Packtieren handelte. Katzer wären so leise gewesen, dass man nichts von ihnen hätte hören können, und die Echsenmenschen nutzten gewöhnlich keine Packtiere. Menschen also. Das konnten nur Händler sein – oder Kaiserliche.
Dummerweise planten diese Menschen, Rast zu machen, nachdem sie die Brücke überquert hatten – genau auf der Seite des Weges, auf die sich Macay und Perret zurückgezogen hatten. So waren die beiden gezwungen, noch ein Stück weiter zu gehen, was wiederum die Gefahr in sich barg, gehört zu werden. Doch es ging alles gut. Macay und Perret legten sich flach auf den Boden, um nicht entdeckt zu werden.
Dunkle Schatten konnte Macay für einen Moment erkennen, als der Wolkenschleier vor dem Mond dünner wurde. Es waren zwei Männer und ein Lastesel. Die Männer waren groß und kräftig und offenbar stark bewaffnet, doch das konnte Macay nur aus der Breite und Unregelmäßigkeit ihres Umrisses vermuten. Noch vier Stunden bis Sonnenaufgang, schätzte er. Zu dem Zeitpunkt hatten Perret und er bereits am Rand des Dschungels sein wollen. Daraus wurde nun wohl nichts.
Macay näherte seine Lippen Perrets Ohr und flüsterte: „Bleib hier.“
Dann zog er seine Lederjacke aus und robbte näher an die Männer heran.
„Bei Morgengrauen gehen wir hinein und sehen uns um“, sagte einer von ihnen. „Falls die drei Gesuchten dort sind, müssen wir uns etwas überlegen, um sie herauszulocken.“
„Ich halte immer noch nichts davon, zu zweit auf drei Krieger loszugehen.“
„Es sind keine Krieger. Eine Katze, eine Echse und ein Junge. Die Echse kann zaubern, sagt man. Jeder von den Dreien bringt mehr, als wir beide brauchen, um den Rest unseres Lebens nicht mehr arbeiten zu müssen. Wir müssen sie trennen. Dann schnappen wir uns nur den Jungen, für den gibt es am meisten, und liefern ihn an der Küste ab. Das ist schon alles.“
„Das ist nicht alles. Wir müssen ihn lebend fangen und abliefern.“
„Dafür haben wir den Esel. Der Junge wird nachts gefesselt und aufgeladen, und schon sind wir unterwegs. Man wird sich in Eszger nur an zwei Händler erinnern, die sich einen Tag im Ort aufgehalten haben, aber dann weitergezogen sind, weil es keine guten Geschäfte zu machen gab.“
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