„Sie könnten misstrauisch geworden sein.“
„Gut für uns, wenn sie ihn nicht verdächtigen“, brummte Aqlorr.
„Sie haben genug damit zu tun, sich über den Taschendieb zu ärgern“, sagte Gronat. „Er bringt Unruhe in die Stadt. Genau das war unsere Absicht.“
„Deshalb habt ihr ihn aus Aragotth geholt?“, wunderte sich Aqlorr.
„Nein, seine eigentliche Aufgabe ist es, Dinge herauszufinden, von denen wir im Bürgermeisteramt nichts wissen. Denn alles, was der Bürgermeister weiß, erfahre ja auch ich.“ Gronat grinste stolz in die Runde. „Fradecco, so lautet der Name des Taschendiebs, hilft uns außerdem, mit Sympathisanten in Kontakt zu bleiben. Bürgern, die unserer Sache wohlgesonnen sind, die aber Angst haben, mit uns zu reden. Er kann nämlich nicht nur stehlen, sondern auch das Gegenteil davon, das heißt, anderen Leuten ungesehen Zettel mit Nachrichten zustecken.“
Wieder sah sich Gronat beifallheischend um. Diesmal erntete er anerkennendes Nicken.
„Aber ich möchte nun ebenfalls an dich eine Frage stellen, Tur“, sagte Saika. „Woher wusstest du schon vor Wochen, dass Macay kommen würde?“
Tur schwieg lange, bevor er antwortete: „Macay ist wichtig für die Sache der Steppenvölker, hat man uns gesagt. Sehr wichtig. Wir sollen auf ihn achtgeben, wenn er in unser Gebiet kommt.“
Saika fragte: „Wer hat das gesagt?“
Tur sah Aqlorr an, der aber keine Miene verzog. „Das zu beantworten, ist schwierig“, sagte Tur. „Ein Geheimnis, das zu viele Menschen kennen, ist keines mehr. Und zu viele, das können schon sehr wenige sein. Aber wenn wir zusammenarbeiten wollen, dann müssen wir uns vertrauen.“
„So ist es“, stimmte Aqlorr zu.
Tur fuhr fort: „Es gibt jemanden, der viel mehr weiß, als wir alle hier. Eine junge Frau, die sich Aalasaana nennt. Jedenfalls klingt ihr Name so, wenn sie ihn ausspricht. Sie sagt, sie sei die Botin einer Macht, die es gut mit uns meint.“
„Eine Macht? Gibt es noch einen Staat auf unserer Welt, von dem wir nichts wissen?“, fragte Saika verblüfft.
„Ich glaube, so meint sie es nicht. Jedenfalls kann oder will diese Macht nicht selbst in Karolien aktiv werden. Auch Aalasaana wird nicht aktiv. Sie spricht mit uns, gibt Empfehlungen und warnt uns manchmal. Aber meist nur sehr vage. Die Ankündigung, dass Macay kommen werde, war eine der seltenen konkreten Angaben, die wir von ihr erhalten haben.“
„Und die Information, dass Macay etwas für alle Wertvolles bei sich trägt“, ergänzte Aqlorr. „Es gilt, ihn und das, was er besitzt, zu schützen.“
„Was das allerdings für ein wertvoller Gegenstand sein soll, wissen wir nicht“, sagte Tur.
Gronat sagte: „Nach dem, was an Gerüchten über den Ozean zu uns gedrungen ist, gilt Macay als so etwas wie ein Schlüssel für verschiedene magische oder alte Dinge. Genaueres ist nicht zu erfahren. Er hat zwei Freunde, Tiermenschen, wie es sie nur auf dem Nebelkontinent gibt. Sie halten sich derzeit als Diplomaten in Aragotth auf.“
„Warum fragen wir nicht diese Aalasaana, wie wir weiter vorgehen sollen?“, wollte Saika wissen.
Tur und Aqlorr schwiegen. Die anderen Frauen und Männer des Steppenstammes taten so, als würden sie sich für die Unterhaltung nicht interessieren.
Saika fragte weiter: „Wo kann man Aalasaana treffen?“
„Sie hält sich nur an ganz bestimmten Orten auf“, sagte Tur. „Und das auch nur manchmal. Sie verfügt über eine Art von Magie, die es ihr erlaubt, zu kommen und zu gehen, ohne dass man es bemerkt.“
„Ist einer der Orte hier in der Nähe?“
„Kann sein.“
„Bringt mich zu ihr!“, forderte Saika.
Tur erhob sich und verließ das Zelt. Nach einigen Minuten kehrte er zurück. „Dies könnte eine der Nächte sein, in denen sie zu uns spricht. Folgt mir.“
Alle im Zelt standen auf, doch Tur sagte: „Nur Saika und Aqlorr.“ Seine Stimme duldete keinen Widerspruch.
Draußen war es bereits dunkel. Man sattelte drei Pferde für sie und füllte die Packtaschen mit Proviant und Wasser. Auch wenn man keine großen Strecken reiten wollte, musste man in der Steppe auf Schwierigkeiten vorbereitet sein.
Die Dunkelheit war wegen des Mondlichts nicht vollkommen, doch die Sträucher und dürren Baumgruppen der Steppe bildeten ein erschreckendes Hintergrundbild, während die drei schnell nach Osten ritten.
Nach einer halben Stunde änderte Tur die Richtung. Langsamer als bisher bewegten sie sich nun nach Süden. Noch einmal eine Stunde dauerte der Ritt nach Saikas Schätzung. Am Horizont tauchten schwarze Silhouetten auf - die Dünen der Wüste.
Bei einer Gruppe knorriger Bäume hielt Tur an und stieg ab. Saika und Aqlorr folgten seinem Beispiel. Sie banden die Pferde an einem Baum fest.
„Bleib dicht bei mir“, flüsterte Tur Saika zu. „Nachts ist die Steppe gefährlich.“
Sie folgte ihm einen gewundenen Pfad entlang, der leicht nach unten führte, wie in die Senke eines ausgetrockneten Flusses. Als Tur und Aqlorr stehenblieben, erkannte Saika vor ihnen die Mauerreste eines verfallenen Gebäudes, zwischen denen Büsche wuchsen.
„Aalasaana?“, fragte Tur nicht sehr laut. Er wartete auf eine Antwort. Lange. Es kam keine. Noch einmal versuchte er es: „Aalasaana, bist du hier?“
Zwischen den Mauerresten leuchtete etwas auf. Von einem Moment zum nächsten brannte dort flackernd ein Lagerfeuer. Am Rande seines Lichtkreises stand eine junge Frau, überdurchschnittlich groß und sehr schlank. Gekleidet war sie in einen Burnus, der mit Mustern verziert war.
Die Frau sah sich zunächst um, als müsse sie sich orientieren und feststellen, wo sie war. Dann wandte sie sich den drei Besuchern zu. „Gibt es Neues zu berichten?“, fragte sie mit einer hohen, lispelnden Stimme.
„Der junge Mann, den du uns angekündigt hast, ist wieder abgereist“, sagte Tur.
„Er wird zurückkehren. Wartet auf ihn. Helft ihm.“
„Bei was?“, fragte Tur.
„Bei seinem Weg in die Wüste.“ Aalasaana setzte sich vor das Feuer. Sie streckte eine Hand aus, als wolle sie sich an den Flammen wärmen. Das Feuer erlosch.
Tur ging nun zu dem Feuerplatz hin. Saika und Aqlorr folgten ihm. Aalasaana war nicht mehr dort.
„Wo ist sie?“, fragte Saika.
„Niemand weiß, woher sie kommt und wohin sie geht. Schau!“ Tur ging neben dem erloschenen Lagerfeuer in die Knie und wühlte mit der Hand in der Asche.
„Vorsicht!“, rief Saika erschrocken.
„Mach es mir nach“, forderte Tur sie auf.
Saika tat es zögernd. Sie wollte sich die Hand nicht in der heißen Asche verbrennen. Doch als sie die Asche und die verkohlten Holzstücke berührte, waren sie kalt.
„Hier hat lange kein Feuer mehr gebrannt“, sagte Tur.
„Aber wir haben es doch eben gesehen!“, protestierte Saika.
„Haben wir das?“, fragte Tur.
Er wandte sich um und ging zu den Pferden.
Die Diplomaten
„Aragotth ist nicht nur die größte Stadt unserer Republik“, sagte Meredeem, „sondern die größte der Welt.“
Rall war bereit, das zu glauben. Er und Zzorg fuhren seit Stunden mit einer Kutsche der Regierung durch Aragotth.
Ihr Stadtführer war ein Mann mittleren Alters, von mittlerer Intelligenz und bekleidete ein Amt irgendwo in der Mitte der Hierarchie der Verwaltung der Karolischen Republik. Kurz gesagt, Meredeem war niemand Besonderes. Er kannte vermutlich keine vertraulichen Fakten aus Regierungskreisen und war deshalb mit dieser Aufgabe betraut worden. Er schien sich darauf einiges einzubilden.
Rall, der Katzenmensch, und Zzorg, der magisch begabte Echsenabkömmling, hielten sich als offizielle Abgesandte des Nebelkontinents und der Freien Republik in Karolien auf. Das war problematisch, denn es gab in ganz Karolien nicht ihresgleichen. Die Einwohner waren es nicht gewohnt, mit Katzen- oder Echsenmenschen umzugehen. Sicherlich hatten die meisten von solchen Rassen gehört, die irgendwo weit weg lebten. Aber schon die erste Begegnung mit Regierungsvertretern lehrte die beiden ungleichen Diplomaten, dass man das in Karolien für Kindermärchen gehalten hatte. Die Menschen waren schockiert, wenn solche Wesen plötzlich vor ihnen standen und zu reden anfingen, als wären sie ganz normale Mitbürger.
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