Macay ging zu den Buden, um sich etwas zu Essen zu kaufen. Dabei behielt er seine Umgebung im Auge. Er hoffte, den Taschendieb noch einmal zu sehen. Vielleicht sogar auf frischer Tat zu ertappen. Aber die Beleuchtung war nicht gut genug. So blieb Macay schließlich an einem Stand stehen, der Teigtaschen mit eingelegtem Gemüse anbot, eine Spezialität Karoliens. Er kaufte sich eine Portion und stellte sich neben der Bude in eine dunkle Ecke, um die Marktbesucher zu beobachten, während er den merkwürdig süß-säuerlich schmeckenden Imbiss aß.
Eine größere Menschenmenge kam vom Theater herüber. Die Zuschauer wollten sich in der Pause zwischen zwei Akten eine Erfrischung gönnen. Nur wenige Schritte von Macay entfernt stolperte ein wohlhabend aussehender älterer Mann und wäre beinahe hingefallen. Ein anderer Passant reagierte zum Glück schnell genug und griff dem Älteren stützend unter die Arme. Ein kleiner Zwischenfall, der nur Sekunden dauerte. Doch Macay sah, wie der hilfreiche Passant etwas aus der Jackentasche des Älteren nahm. Auch wenn der scheinbare Helfer nicht der junge Mann vom Vormittag war: Es handelte sich um einen Taschendieb!
Macay folgte ihm. Er wusste, dass Taschendiebe gerne zu zweit arbeiteten. Der eine stahl, gab die Beute dann aber gleich an einen Komplizen weiter. Sollte der Dieb ertappt werden, so würde man keine Beute bei ihm finden und musste ihn laufenlassen.
Wieder rempelte der Mann einen anderen Passanten an - und steckte seinem Opfer diesmal etwas in die Tasche. Doch der Mann, dem er etwas zugesteckt hatte, sah aus wie ein ehrbarer Bürger. Er war mit Frau und zwei Kindern zwischen den Buden unterwegs. Kaum der passende Komplize für einen Taschendieb! Zu gerne hätte Macay Saika nach ihrer Meinung gefragt. Sie war gelernte Diebin. Aber man durfte sie hier in Kedorrah nicht zusammen sehen.
Macay folgte dem Taschendieb weiter. Noch einmal beobachtete er einen inszenierten Beinahezusammenstoß, bei dem der Dieb etwas stahl. Dann verließ der Taschendieb das Gelände.
Macay blieb hinter ihm. Immer wieder schien der Schatten vor Macay zu verschwinden, tauchte dann aber wieder auf. Gemütlich schlendernd manchmal, dann mit schnelleren Schritten, als habe er es plötzlich eilig. Die Silhouette und die geschmeidige Gangart des Mannes waren jedoch so eindeutig, dass Macay sicher war, immer denselben vor sich zu haben.
Schließlich verlor Macay den Taschendieb aus den Augen. Enttäuscht blieb er stehen und versuchte, in der Dunkelheit eine Bewegung zu erkennen. Der Lärm, der vom Theaterplatz herüberklang, machte es unmöglich, Schritte zu hören. Nach einigen Minuten gab er das Warten auf und ging zügig auf das Stadttor zu. Plötzlich packte ihn jemand von hinten, riss ihn herum und warf ihn zu Boden.
Es waren die Reflexe, die er sich während der Abenteuer auf dem Nebelkontinent und den Brückeninseln angeeignet hatte, die Macay retteten. Er wehrte sich nicht, sondern nutzte den Schwung des Falles dazu, sich wegzurollen. Er versuchte auch nicht, sich aufzurichten; er zog im Liegen die Knie an und empfing den Gegner, indem er ihm seine Stiefelsohlen in den Magen rammte. Das brachte den Mann zu Fall. Nun sprang Macay auf. Doch der Angreifer war ebenso wendig wie er und sofort wieder auf den Beinen. Die Klinge eines Messers glänzte im schwachen Mondlicht.
Macay war unbewaffnet. Er machte sich bereit, sein Leben mit bloßen Händen so gut wie möglich zu verteidigen.
„Wir sind nahe am Stadttor“, sagte er, den Blick immer auf das Messer gerichtet, um einen Angriff sofort zu erkennen. „Wenn ich um Hilfe rufe, sind die Büttel in wenigen Augenblicken hier.“
„Feigling!“, sagte der Mann. Aber er steckte das Messer weg. „Du bist der Kerl, der aus der Hauptstadt gekommen ist“, fuhr er fort.
„Behauptet man das?“, fragte Macay.
„Man hört so manches, das aber nicht stimmen muss.“
„Wo kommst du her?“, wollte Macay wissen. „Taschendiebe hat es in Kedorrah bisher nicht gegeben.“
„Sagen wir mal, ich komme auch aus der Hauptstadt und bin hier, weil ich mich von meinen Geschäften dort erholen will.“
„Man ist hinter dir her und du versteckst dich hier“, folgerte Macay.
„Vielleicht.“
„Wer ist der behäbige Mann, dem du vorhin etwas zugesteckt hast?“
„Oha, du hast gute Augen“, antwortete der Taschendieb. „Vergiss das wieder, sonst könnte es sein ...“ Er ließ das Ende seiner Drohung offen. Unvermittelt streckte der Taschendieb seine rechte Hand aus. „Ich heiße Fradecco“, sagte er.
„Macay.“
Sie schüttelten sich die Hand.
„Ich habe das Gefühl, wir passen ganz gut zueinander. Wir sind beide Außenseiter“, sagte Fradecco.
Sie gingen nebeneinander her auf das Stadttor zu. „Wer ist der zweite Taschendieb, der auf dem Jahreszeitenmarkt arbeitet?“, fragte Macay. „Ein junger Mann, auch nicht von hier.“
Fradecco lachte. „Danke für den jungen Mann.“ Dabei fuhr er sich mit der Hand durch die Haare, wischte mit einem Taschentuch Schminke aus seinem Gesicht und richtete sich ein wenig auf. Gleich wirkte er schlanker und jünger als bisher.
Erstaunt sah Macay, dass nun der Taschendieb neben ihm stand, der am Vormittag versucht hatte, ihn zu bestehlen. „Du warst das also!“
„Ich bin der einzige meines Gewerbes in der Stadt“, sagte Fradecco.
„Das war kein Zufall heute Vormittag“, behauptete Macay aus einem Gefühl heraus. „Du hast gezielt versucht, mich zu bestehlen. Worauf bist du aus?“
„Ich weiß es nicht. Man hat mir gesagt, du trägst etwas Wertvolles bei dir und ich solle versuchen, es dir abzunehmen.“
„Man? Wer?“
„Leute hier in der Stadt. Sie haben mir nicht verraten, um was es geht. Nachdem ich dich nun kennengelernt habe, bin ich mir nicht mehr sicher, ob es gut wäre, dich zu bestehlen. Vielleicht sind meine Auftraggeber nicht die wohlgesinnten Leute, die zu sein sie behaupten. Darf ich dir einen Rat geben?“
„Gerne.“
„Verschwinde von hier. Wenn diese Leute feststellen, dass ein Taschendieb nicht mit dir fertig wird, könnte es sein, dass sie auf eine schmerzhaftere Art versuchen, sich in den Besitz deines Eigentums zu setzen.“
„Ich verstehe. Wie groß schätzt du die Gefahr ein?“
„Morgen früh noch vor Sonnenaufgang fährt die erste Kutsche Richtung Aragotth ab.“
„Du bleibst hier?“
„Das werde ich mir in den nächsten Stunden überlegen. Vielleicht treffen wir uns in der Kutsche. Jetzt habe ich erst einmal etwas Anderes vor. Viel Glück und gute Reise.“
Mit schnellen, leisen Schritten verschwand Fradecco in der Dunkelheit zwischen den Büschen am Wegesrand.
Aalasaana
Das Zeltdorf der Steppenbewohner lag irgendwo südwestlich von Kedorrah. In Turs großem Zelt, das zwei Dutzend Personen bequem Platz bot, saßen an diesem Abend Männer und Frauen im Kreis und tranken Tee. Die Vorfälle am Rande der Wüste hatte man bereits erörtert, ebenso die von der Regierung ausgehende Gefahr für die Steppenvölker.
„Wo ist Macay?“, fragte Tur schließlich.
„Heute am frühen Morgen abgereist“, antwortete Saika. „Mit der Kutsche nach Aragotth.“
„Hat er gesagt, warum?“
„Ich habe nicht mit ihm gesprochen. Gronat hat mir von seiner Abreise erzählt.“
Gronat, ein schmächtiger junger Mann mit flachsblondem Haar, war der Anführer der politischen Widerstandsgruppe in Kedorrah. Da er tagsüber als Schreiber im Bürgermeisteramt arbeitete, verfügte er über alle wichtigen Informationen.
„Die Büttel haben ihn bei der Abreise beobachtet. Seit der Taschendieb in der Stadt ist, haben sie ein Auge darauf, wer kommt und geht.“
„Sie haben nicht versucht, ihn von der Reise abzuhalten?“, hakte Tur nach.
„Wieso sollten sie?“ Gronat hob verwundert die Augenbrauen.
Читать дальше