Mit seinem Schwert hieb Macay auf eine Stange, die ihm gefährlich nahe kam. Doch die Klinge prallte ab, ohne Schaden anzurichten.
„Kampf ist sinnlos“, zischte Zzorg. Er stieß den zögernden Macay zu der Sandfläche.
Macay tat den entscheidenden Schritt und erschien im nächsten Moment auf einer mit Gras bewachsenen Lichtung in einem dunklen Wald. Rall stand mit einigen Gemliern an einem Lagerfeuer und starrte zu ihm herüber. Erst nach bangen Minuten kam auch Zzorg, gefolgt von den überlebenden Grünlingen.
„Was war los?“, fragte Macay.
„Etwas Seltsames ist geschehen“, berichtete Zzorg. „Die Jäger Orgaris blieben stehen, als du durch das Tor gegangen warst. Es war, als wüssten sie nicht, was sie als Nächstes tun sollten. Dann machten sie kehrt und verschwanden im Nebel.“
„Sie waren also nur hinter mir her? Warum? Ich dachte, sie können nicht einmal ein Lebewesen von einem anderen unterscheiden.“
„Ich weiß es nicht. Vielleicht kennt Bea die Antwort.“
Über zwei weitere Zwischenstationen gelangten Macay, Rall und Zzorg zu der Station der Alten Menschen. Im flackernden Schein von Fackeln sahen sie die Hütten, die den Platz umstanden, und im Hintergrund den riesigen Rundbau aus Metall, der sich bis tief unter die Erde fortsetzte.
Ein Gemlier empfing sie und führte sie in eine der Hütten. Dort waren vielerlei technische Geräte installiert, deren Funktion Macay nicht verstand. Eines von ihnen diente der Verbindung mit Bea, der künstlichen Intelligenz in der Station der Alten Menschen. Vor dieses Gerät setzte sich Macay.
„Ich grüße euch“, ertönte gleich darauf die wohlbekannte Stimme. „Ihr habt lange gebraucht, um zu mir zu gelangen. Ich habe einen Auftrag für euch.“
Macay unterbrach sie: „Orgari hat seine Jäger ausgeschickt. Aber sie waren nur hinter mir her.“
„Ich weiß. Orgari ist eines der Probleme, die mich derzeit beschäftigen. Noch mehr bin ich über rätselhafte Vorgänge auf dem karolischen Kontinent besorgt. Ihr werdet dorthin reisen. Ich habe zwei Missionen für euch.“
Bea erklärte Macay und den beiden Tiermenschen, was sie von ihnen erwartete. Eine abenteuerliche Reise begann.
Am Rande der Wüste
Die Wüste zog sich hin bis zum Horizont, Düne hinter Düne hinter Düne. In der Hitze flirrte die Luft, keine Wolke war am Himmel.
„Sechshundert Meilen von hier bis zur Südküste?“, fragte Macay.
„Ungefähr“, bestätigte Tur, der neben ihm bäuchlings auf dem Kamm einer Düne im Sand lag. Er zeigte nach Südwesten. „Dort gab es einst Städte. Heute sollen es Ruinen sein, von denen man sagt, einige seien bewohnt.“
„Warst du nie da, um nachzusehen?“
„Keiner, der nachsehen ging, ist je zurückgekehrt“, antwortete Tur und deutete nun nach Südosten. „Dort liegen Oasen. Jeweils einige Dutzend Meilen voneinander entfernt. Mit Glück und der richtigen Vorbereitung könnte man es dank ihres Wassers schaffen, bis zur Südküste zu gelangen. Doch die Oasen sind tödliche Fallen. Deshalb ist es zu gefährlich, diese Route zu wählen.“
„Wer lebt in den Oasen?“, fragte Saika. Sie lag neben den beiden Männern.
„Wesen“, antwortete Tur vage. „Wünsche dir nicht, sie jemals zu sehen.“
„Also führt der einzige sichere Weg zur Südküste mitten durch die Wüste“, sagte Macay. „Ohne die Ruinenstädte oder Oasen zu berühren.“
Tur lachte. „Hunderte von Meilen durch die Wüste ohne eine Oase? Das bedarf einer Expedition, wie sie nur wenige Male in der Geschichte versucht worden ist.“
„Wie kann man die Südküste sonst erreichen?“
„Mit dem Schiff. Wenn man entlang der karolischen Küste segelt, gelangt man ungefährdet zur Südspitze unseres Kontinents. Aber warum sollte man das tun? Die Wüste bedeckt das ganze Gebiet. Der fruchtbare Küstenstreifen, den die vom Meer hereintreibenden Regenwolken schaffen, wird von den Sandmassen der wandernden Dünen immer wieder überdeckt. Keine Siedlung existiert lange.“
„Hat man es versucht?“
„Seefahrer sind früher dort angelandet. Fischer, die im Südmeer größere Fänge erhofften und Stützpunkte anlegten.“
„Aber?“
„Wie schon gesagt, keine Siedlung hat lange existiert. Die Fischer haben aufgegeben oder sind von ihren Fangfahrten nicht wiedergekehrt.“
Macay schwieg.
Nach einer Weile fragte Tur: „Suchst du etwas Bestimmtes in der Wüste oder warum interessierst du dich dafür?“
„Etwas Merkwürdiges geht im Süden Karoliens vor sich“, sagte Macay. „Ich soll herausfinden, was es ist.“
„Im Süden? Das muss nicht heißen, in der Wüste“, sagte Tur. „Niemand rechnet die Wüste zu Karolien. Die südlichsten Städte liegen an der Grenze zwischen dem fruchtbaren Land und der Steppe.“
„Deshalb sind Saika und ich nach Kedorrah gekommen“, antwortete Macay. „Wir ...“
Tur hörte ihm nicht mehr zu. Er richtete sich auf, drehte sich um und sah nach Norden, hin zur Steppe. Wie Macay und Saika trug Tur einen hellen Burnus und mehrere um den Kopf gewickelte Tücher. Das schütze nicht nur vor der Sonne, sondern machte sie hier im Sand fast unsichtbar.
„Wir bekommen Besuch“, sagte Tur. „Besser, wir gehen zu den Pferden.“
Sie rutschten von der Düne herunter. Ihre Pferde standen einige Dutzend Schritte entfernt im Schatten der letzten dürren Bäume, die den Rand zwischen der Steppe und der Wüste markierten. Von hier aus weitere zweihundert Meilen nach Norden begann die grüne Zone des karolischen Kontinents. Wie durch ein Wunder verwandelte sich dort die Steppe in fruchtbares Weideland. Diese Grenze zog sich quer über den Kontinent von der Ostküste bis zur Westküste.
Bei den Pferden angekommen, setzten sie sich neben die erkaltete Feuerstelle und warteten ab. Tur war ein unglaublich geduldiger Mensch, hatte Macay schon feststellen können. Stundenlang untätig im Schatten zu sitzen, schien ihm nicht das Geringste auszumachen.
Es dauerte lange, bis Macay Hufschlag hörte. Von Westen näherte sich ein Reiter. In Sichtweite des Lagerplatzes hielt er sein Pferd an und musterte Tur, Macay und Saika.
Der Mann war klein und nicht wie ein Steppenbewohner gekleidet. Jedenfalls nicht wie die, zu denen Tur gehörte. Statt eines Burnus trug er ein weites, rotes Hemd und darüber einen leichten Lederharnisch. An seiner linken Seite baumelte ein Schwert, an der rechten ein Dolch, beide in reichverzierten Lederscheiden.
Tur winkte dem Reiter zu. Erst daraufhin stieg der ab und brachte sein Pferd in den Schatten zu den drei Tieren, die dort schon standen. Dann kam er zum Lagerplatz. Nach einer kurzen Begrüßung unterhielten sich Tur und der Mann in einer Sprache, die Macay nicht verstand. Der kleine Krieger schien aufgeregt, während Tur seine gelassene Art beibehielt.
Schließlich wandte sich Tur an Macay und Saika: „Dies ist Aqlorr, Herr über die Steppenstämme an der Westküste. Er ist seit Wochen unterwegs, um euch zu treffen.“
„Uns?“
„Ja. Den jungen Mann vom Nebelkontinent; Aqlorr hat von dir gehört. Und die Frau mit den blonden Haaren, die gegen die Regierung in Aragotth kämpft.“
Etwas ist gründlich schief gegangen, dachte Macay. Eigentlich konnte niemand außer Tur wissen, dass er sich auf dem karolischen Kontinent aufhielt. Saika war schon vor einiger Zeit vom Nebelkontinent in die Karolische Republik gereist. Dank ihres Könnens als Diebin war es ihr leichtgefallen, sich der Widerstandsbewegung in Kedorrah anzuschließen. Doch wenn schon so entfernte Stämme wie die an der Westküste davon wussten, bestand höchste Gefahr für sie.
Aqlorr schien ihm diese Sorge vom Gesicht abzulesen. „Nur wenige haben von euch gehört“, beschwichtigte er. Er sprach die Umgangssprache Karoliens akzentfrei. „Aber der Wind der Steppe verrät viele Geheimnisse. Sind sie zum Wohle unserer Völker, nutzen wir dieses Wissen. Wenn nicht, geben wir es dem Wind zurück, der es weiter trägt, hinaus aufs Meer, ins ewige Vergessen.“
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