Der Mann, schlank und gut gekleidet, machte nicht den Eindruck eines gewöhnlichen Taschendiebs.
„Versuch das nicht noch einmal!“, herrschte Macay ihn an.
In Macays Heimatstadt Mersellen rief man nicht die Polizei, wenn man einen Dieb erwischte. Zumindest nicht, wenn man wie Macay von Kindheit an selbst auf gelegentliche Diebstähle angewiesen war, um etwas zu Essen zu haben. Man machte seinem Gegenüber klar, dass man auf derselben Seite stand, und ließ ihn laufen.
Der Taschendieb starrte Macay mit großen Augen an, während er sich hochrappelte. Macay ließ sein Handgelenk los. Der Mann schüttelte die Hand nach unten, als wolle er prüfen, ob das Gelenk noch funktioniert. Dann stand er unschlüssig da.
Macay grinste ihn an, um die Spannung zu nehmen. „Man hat mir gesagt, in Kedorrah gebe es keine Diebe“, sagte er. „Wer bist du?“
Der junge Mann öffnete den Mund, um zu antworten. Aber er besann sich anders und drehte den Kopf zur Seite, als höre er etwas Ungewöhnliches.
Tatsächlich schallten vom anderen Ende des Marktplatzes Rufe herüber. Während Macay noch überrascht versuchte, zu verstehen, was da gerufen wurde, gab ihm der junge Mann unvermittelt einen Schubs. Macay stolperte einen Schritt nach hinten. Das nutzte der Taschendieb, um davonzurennen und zwischen den Marktbesuchern zu verschwinden.
Macay folgte ihm nicht. Wozu auch? Ihm war nichts gestohlen worden. Und wenn die Diebe in Kedorrah ähnlich organisiert waren, wie er es aus Mersellen kannte, dann sprach sich unter ihnen schnell herum, dass Macay jemand war, dem man besser nicht in die Tasche fasste. Man würde ihn künftig in Ruhe lassen.
Er ging zum anderen Ende des Marktplatzes, von woher das Geschrei erklungen war, das ihn abgelenkt hatte. Er fand eine dichte Menschenmenge, in deren Mitte Uniformierte sich mit einem gutgekleideten Bürger unterhielten, der mit hochrotem Kopf lauthals schimpfte. Ein Taschendieb hatte ihm die Geldbörse gestohlen.
Mit einem unterdrückten Grinsen ging Macay weiter. Dieses Kedorrah war offenbar doch nicht das idyllische Paradies, das zu sein es vorgab.
Als Macay vom Markt zum Gasthaus zurückkehrte, warteten zwei Büttel auf ihn. Sie waren sehr höflich, als sie ihn ansprachen. Der dickere von den beiden stellte sich als Roderham vor, Oberbüttel der Stadt Kedorrah. Er erkundigte sich nach Macays Namen und fragte, wo er herkomme und was er in der Stadt vorhabe.
Macay antwortete mit den vorbereiteten Lügen: Er stamme aus einem Ort weit im Norden des Kontinents und wolle neue Handelsmöglichkeiten erkunden.
„Welche Handelsmöglichkeiten?“
„Wenn ich wüsste, welche Möglichkeiten es gibt, hätte ich die lange Reise nicht auf mich nehmen müssen“, entgegnete Macay.
Einen Moment musste Roderham nachdenken, bevor er zugab: „Das macht Sinn. Sie waren heute auf dem Marktplatz?“
„Wie fast jeder andere Mensch in der Stadt. Der Jahreszeitenmarkt in Kedorrah ist berühmt. Wer würde sich den entgehen lassen?“
Roderhams Gesicht leuchtete auf und er lächelte, als habe das Kompliment ihm persönlich gegolten. „Ja, das stimmt! Sind Sie während des Marktbesuchs belästigt worden?“
„Nein. Wer sollte mich belästigen?“
„Es treibt sich ein Taschendieb auf dem Markt herum.“
„Mir wurde nichts gestohlen“, antwortete Macay wahrheitsgemäß.
„Beruhigend, das zu hören.“ Roderham schien wieder erst nachdenken zu müssen, bevor er eine weitere Frage fand, die er stellen konnte. „Aber dieser Zusammenstoß mit einem anderen Marktbesucher am Honigfladenstand ...“
Nun öffnete der zweite Büttel zum ersten Mal den Mund: „Stand Nummer 62, Inhaber Arad Deran.“
„... erweckte den Anschein, er sei nicht zufällig erfolgt“, beendete Roderham seinen Satz.
Die Büttel sind erstaunlich gut informiert, dachte Macay. Er sagte: „Da hat sich ein junger Mann unvorsichtig an mir vorbeigedrängt. Ich gebe zu, dass ich im ersten Moment einen Taschendieb vermutete, denn das ist eine ihrer Methoden, um Opfer zu überrumpeln. Aber wie schon gesagt, mir wurde nichts gestohlen, und der junge Mann hat sich für seine Unvorsichtigkeit entschuldigt.“
„Aha! Sie wissen genug über die Methoden von Taschendieben, um sofort an diese Möglichkeit zu denken“, folgerte Roderham.
„Nicht überall sorgt die Obrigkeit so gründlich für die Sicherheit der Bürger wie hier in Kedorrah“, schmeichelte Macay ihm. „In anderen Städten lernt man, vorsichtig zu sein.“
„Das trifft wohl zu.“ Roderhams Gesichtszüge verfinsterten sich und seine Stimme wurde lauter. „Aber wir sind hier nicht in anderen Städten. Ein Taschendieb in unserer Stadt ist ein unerhörter Vorfall! Kein Dieb, welcher Art auch immer, hat sich hier aufzuhalten!“
„Sie wissen doch gar nicht, ob dieser junge Mann ein Taschendieb ist.“
„Ihnen ist nichts entwendet worden, aber anderen Marktbesuchern. Ich hatte gehofft, Sie könnten mir einen Hinweis auf den Übeltäter geben. Würden Sie ihn wiedererkennen?“
„Vermutlich. Aber das würden auch die anderen Passanten, die den Vorfall beobachtet und Sie darüber informiert haben, nicht wahr?“ Macay konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.
„Ja, sicher, da haben Sie recht. Wie lange werden Sie sich noch in unserer Stadt aufhalten?“
„Wenige Tage“, behauptete Macay.
„Und wohin reisen Sie von hier aus?“
„Das kommt darauf an, welche geschäftlichen Möglichkeiten sich ergeben. Eventuell an eine der Küsten, falls das günstig erscheint. Ansonsten in die Hauptstadt, um neue Investoren zu gewinnen.“
„Ich wünschen Ihnen gute Geschäfte und eine gute Reise“, sagte Roderham. Er salutierte zackig. Sein Untergebener tat es ihm nach. Dann marschierten die beiden Ordnungshüter davon.
Es war Abend, als Macay aus dem Stadttor hinaus auf das freie Feld ging, wo ein Schauspiel aufgeführt werden sollte. Das Tor wies nach Norden, denn dorthin führten alle Straßen, über die man Kedorrah erreichen konnte. Südlich der Stadt verwandelte sich das fruchtbare Land binnen weniger Meilen in dürre Steppe; in diese Richtung reiste niemand.
Das Freilufttheater war nicht zu verfehlen, weil es hell beleuchtet war. Um Macay herum gingen viele Bürger der Stadt ebenfalls dorthin, noch festlicher gekleidet als tagsüber auf dem Markt. Vor dem Theatereingang standen Jahrmarktbuden, wie er sie auch auf dem Marktplatz gesehen hatte.
Die Holzbänke vor der improvisierten Bühne reichten nach Macays Schätzung für rund zweihundert Zuschauer. Die Plätze füllten sich schnell. Kultur schien in Kedorrah einen hohen Stellenwert zu haben.
Es dauerte noch eine halbe Stunde, bis dreimaliges lautes Klingeln verkündete, dass die Vorführung begann. Der Vorhang hob sich und man sah ein Bühnenbild, das rechts einen gemütlich ausgestatteten Wohnraum zeigte, in der Mitte eine angedeutete Hauswand und links eine Straße. Im Haus unterhielten sich die Mitglieder einer Familie über Politik.
Im ersten Moment fragte sich Macay, warum ein heikles Thema wie Politik bei einer solchen Volksbelustigung angesprochen wurde. Doch schnell hörte er heraus, dass das ganze Theaterstück aus Lobreden auf die Regierung der Karolischen Republik und ihren Präsidenten Abruun bestand. Auch der Bürgermeister der Stadt wurde mehrmals gelobt und die Behörden allgemein als vorbildlich erwähnt. Dabei nannten die Schauspieler nie Namen, nicht einmal den der Stadt. Was Macay sah, war ein Standardstück, das man unverändert in jedem Ort Karoliens darbieten konnte. Die Geschichte, um die es eigentlich ging, war ein kompliziertes Liebesverhältnis eines Mädchens, das einen schneidigen, aber armen Offizier heiraten wollte, während sein Vater einen reichen Kaufmannssohn für sie im Auge hatte.
Wenige Minuten genügten, um in Macay gähnende Langeweile aufkommen zu lassen. Das ging nicht nur ihm so. Immer mehr Zuschauer verließen das Theater wieder. Dafür rückten aber ständig andere nach, die wohl nur einen Blick auf die Schauspieler und die Kostüme werfen wollten, ohne sich um das Stück als solches zu kümmern.
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