Meredeem öffnete die Tür wieder einen Spalt und rief dem Direktor zu: „Ich fahre einmal rund um das Gebäude, um die Sauberkeit des Geländes beurteilen zu können. Sie warten hier.“
„Danke“, japste der Dicke.
Die Rundfahrt brachte für Rall und Zzorg keine neuen Einsichten. Die Kutsche verließ den gesicherten Bereich wieder durch das bewachte Tor. Dann schickte Meredeem den Zweiten Direktor Agarana der Fabrik zurück in sein Büro, nachdem er ihm noch zugestanden hatte, dass auf dem Gelände vergleichsweise ordentliche Verhältnisse herrschten.
Auf der Weiterfahrt wollten Rall und Zzorg über ihre Eindrücke diskutieren, aber Meredeem unterbrach sie: „Wir besichtigen jetzt eine Werft der Marine. Warten Sie mit Ihren Fragen, bis Sie die gesehen haben.“
„Aragotth liegt nicht am Meer“, sagte Zzorg. „Ist die Fahrt zur Werft nicht zu weit für heute?“
„Die Werft liegt flussabwärts wenige Meilen außerhalb der Stadt. Man hat den Fluss ausgebaggert, um ihn für große Kriegsschiffe befahrbar zu machen. Außerdem hat man einen Binnenhafen angelegt, der einerseits die Zulieferung für die Werft vereinfacht, andererseits der Marine einen Stützpunkt im Inland bietet. Falls eine fremde Flotte ...“
„Die einzige andere Flotte ist die der Freien Republik“, warf Rall ein.
Meredeem ließ sich davon nicht beeindrucken. Er fuhr fort: „Falls eine fremde Flotte diesen Marinestützpunkt angreifen will, muss sie den Fluss hochfahren. Für Segelschiffe ein Problem, nicht wahr? Einmal ganz davon abgesehen, dass derzeit an der Flussmündung am Meer zwei Festungen gebaut werden, die mit ihren Kanonen jedes fremde Schiff vernichten können.“
„Die Karolische Republik bereitet sich auf einen Krieg vor“, sagte Rall düster.
Meredeem schwieg.
Auch die Einfahrt zur Werft war schwer bewacht. Doch die Kutsche durfte passieren.
„In den inneren Bereich der Marinewerft darf sich selbst ein Inspekteur nicht wagen“, sagte Meredeem. „Aber das, was man von hier aus sehen kann, sollte genügen.“
Die Kutsche rollte vor ein Verwaltungsgebäude. Wieder kam ein hoher Mitarbeiter der Firmenleitung heraus und musste die Kutsche auf der angeblichen Inspektionstour begleiten. Wieder ging es Meredeem um die Sauberkeit des Geländes, womit erklärt war, warum er die Kutsche nicht für genauere Inspektionen verließ.
Nach der Besichtigung von im Freien gestapelten Versorgungsgütern rollten sie gemächlich einen Hügel hinauf, der den Blick hinunter auf den Fluss ermöglichte. Dort war ein riesiges Hafenbecken ausgehoben worden, in dem vier Kriegsschiffe lagen. Daneben war ein weiteres Schiff auf der Werft im Bau.
„Sehen Sie sich die Schiffe genau an“, forderte Meredeem. „Auch wenn Sie sich mit Schiffen nicht auskennen, wird Ihnen auffallen, dass sie nicht nur Masten und Segel haben, sondern auch Schornsteine. Diese Fregatten verfügen in ihrem Inneren über Dampfmaschinen, die es ihnen ermöglichen, gegen den Strom Flüsse hinaufzufahren. Noch sind diese Maschinen nicht so effektiv, dass man auf Segel verzichten könnte. Für eine lange Fahrt passen nicht genügend Kohlen auf die Schiffe. Aber schon jetzt sind die Dampfmaschinen ein gewaltiger Vorteil in einer Schlacht. Ebenso wie die Panzerung der Rümpfe durch Eisenplatten, die feindliche Kanonenkugeln einfach abprallen lassen.“
„Diese vier Schiffe könnten der Flotte der Freien Republik erheblichen Schaden zufügen“, sagte Zzorg mit belegter Stimme.
„Schaden?“ Meredeem lachte. „Vermutlich könnten sie die gesamte Flotte der Freien Republik vernichten, ohne dass wir selbst auch nur eines davon verlieren.“
„Ich glaube, wir haben genug gesehen“, meinte Rall.
„Noch nicht ganz“, widersprach Meredeem. „Schauen Sie sich bitte noch an, wie die großen Mengen an Material für die Werft herangeschafft werden. Der Binnenhafen, den die Lastkähne anlaufen, liegt stromaufwärts. Sehen sie!“ Er deutete nach unten.
Von dem Hügel herunter sah es für Rall und Zzorg so aus, als würde sich ein langer schwarzer Wurm am Flussufer entlangwinden, der Qualmwolken ausstieß. Als er näherkam, erkannten sie, dass es sich um ein Ungetüm aus Eisen handelte, das viele Wagen hinter sich herzog. Es fuhr auf Schienen aus Eisenträgern.
„Eine Dampfbahn“, erklärte Meredeem. „Sie wird durch Kohle angetrieben, wie die Maschinen in den Schiffen. Eine dieser genialen Erfindungen, die eines Tages einfach da waren. Man beginnt jetzt damit, die großen Städte der Karolischen Republik durch Schienen zu verbinden. Das war es, was ich Ihnen zeigen wollte.“
„Wir sind beeindruckt“, gab Rall zu.
„Nun bleibt noch der letzte Akt unserer Geschichte. Sie verlassen die Kutsche nachher auf einem Feldweg. Dort zerreißen Sie bitte ihre Kleidung ein wenig, so dass es nach einem Kampf aussieht. Eine Meile von dem Ort entfernt, an dem ich Sie absetzen werde, finden Sie eine Polizeistation. Dort können Sie sich melden und berichten, wie Sie heldenhaft gegen Ihre unbekannten Entführer gekämpft haben und schließlich fliehen konnten.“
„Werden wir uns wiedersehen?“
„Vermutlich nicht. Es wäre nicht gut für mich und nicht gut für Sie. Übrigens, bevor ich heute Morgen meinen offiziellen Dienst als Reiseführer für zwei Diplomaten angetreten habe, ist mir noch ein Gerücht zu Ohren gekommen.“
„Nämlich?“, fragte Rall.
„Man sorgt sich in gewissen Kreisen der Regierung um einen jungen Mann, der aus einer Kleinstadt im Süden nach Aragotth gekommen sein soll. Er wird gesucht, aber ich konnte nicht in Erfahrung bringen, warum.“
Rall und Zzorg wechselten einen Blick. „Wissen Sie, wie der junge Mann heißt?“, fragte Rall.
„Sein Name lautet Macay Saadecin“, antwortete Meredeem. Er schloss die Tür und die Kutsche rollte davon.
Macay in Aragotth
Aragotth, die Riesenstadt! Macay sah auf sie hinab, als die Reisekutsche sich den ersten Vororten näherte. Das Stadtzentrum lag im weiten Tal eines Flusses, das umgeben war von Hügeln. Eine dichte Dunstglocke hing über dem Flusstal und ließ die Häuser im Stadtinnern unwirklich erscheinen. Der Dunst stieg nicht nur aus dem Fluss auf, sondern kam auch aus den Schornsteinen der vielen Manufakturen, die entlang der Ufer standen.
Die Hänge waren mit Wohnhäusern geradezu gepflastert. Doch je höher ein Haus lag, desto vornehmer sah es aus und desto mehr Grün umgab es. Die reicheren unter den Bürger von Aragotth zogen sich aus der Dunstglocke zurück nach oben, wo die Luft sauber war.
Auf einer Hügelkuppe über der Stadt hielt die Kutsche, in der acht Passagiere saßen. Einer von ihnen wohnte hier und stieg aus. Diese Gelegenheit nutzte Macay, um seine Reisetasche zu nehmen und ebenfalls auszusteigen. Die Warnung des Taschendiebs Fradecco klang ihm noch in den Ohren. Deshalb hielt er es für besser, nicht bis zur Endstation im Zentrum Aragotths mitzufahren. Vielleicht erwartete man ihn dort.
Er würde, so schätzte er, nur zwei bis drei Stunden Fußmarsch bergab benötigen, um in die Innenstadt zu gelangen. Die Abenddämmerung zog langsam über den Hügeln herauf, mit roten Streifen entlang des Horizonts. Es war ein schöner Spaziergang. Doch die lange Fahrt hatte Macay ermüdet. Nach einer halben Stunde erreichte er eine Taverne, in der er ein Abendessen bestellte und nach einem Zimmer fragte. Man bot ihm eines zu einem moderaten Preis an und er akzeptierte.
„Sie kommen wohl von weit her?“, fragte der Wirt, während er seinen Gast mit einem Kerzenleuchter nach oben führte.
„Aus dem Norden“, behauptete Macay. „Wie kommen Sie darauf?“
„Ihre Kleidung ist, nun ja, eher ländlich, und Ihre Aussprache verrät, dass Sie nicht aus Aragotth stammen. Aus dem Norden sagen Sie? Ich dachte, Sie wären mit der Kutsche von Süden gekommen.“
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