Seine Gastgeberin, Emanuela Grandis, eine füllige Mulattin mit gewaltigen Hängebrüsten und einem runden, gemütlichen Gesicht mit warmherzigen Augen, setzte sich zu ihm, als Jules am nächsten Morgen als letzter Frühstücksgast noch am Tisch bei seiner zweiten Tasse Tee saß.
»Haben Sie für heute besondere Pläne, Monsieur?«, fragte sie in einem leidlichen Englisch mit dem weichen Akzent vieler Französisch-Muttersprachlichen und der Betonung der letzten Silbe in fast allen Wörtern.
»Nein, Madame Grandis, das heißt, ich habe mich noch nicht entschieden.«
»Sie sollten ein paar unserer Museen besuchen. Und selbstverständlich auch die Kathedrale«, wollte sie weitere Informationen über den Grund des Aufenthalts ihres seltsamen Gastes herausfinden, der sich gestern ohne jede Reservierung von einem Taxi direkt hierherfahren ließ und dem die Höhe des Zimmerpreises völlig egal schien.
Jules musste lächeln.
»Vielleicht könnten Sie mir ein wenig von Ihrem schönen Land und den Menschen erzählen?«
Die Mulattin sah ihn prüfend an. Die Flügel ihrer breiten Nase blähten sich für einen Moment auf. Sie ahnte wohl ein Geheimnis, zumindest etwas Ungewöhnliches und einige Aufregung Versprechendes.
»Was möchten Sie denn gerne erfahren?«
»Was wissen Sie über General Namphy? Oder Präsident Manigat?«
Emanuela Grandis sog scharf die Luft durch ihre Nase ein und ihr Gesichtsausdruck wechselte von fröhlich zu vorsichtig.
»General Namphy hat uns den Frieden gebracht. Er wurde zum Vater aller Haitianer. Und Präsident Manigat? Er ist ein Unruhestifter. Ich habe ihn nicht gewählt. Wussten Sie, dass er vor Jahren in Venezuela lebte und von dort aus Pläne schmiedete, um die Macht in Haiti mittels Staatsstreich an sich zu reißen? Ich traue keinem Menschen, der nicht einmal vor dem Einsatz von Gewalt zurückschreckt.«
»Und General Namphy ist nicht gewalttätig?«
»Nach dem Fall der Duvaliers musste jemand die Macht zum Wohle des Volkes übernehmen. Das Land wäre sonst in einem Bürgerkrieg versunken.«
»Hat Namphy seine Karriere nicht unter den Duvaliers begonnen?«
Die Bed & Breakfast Betreiberin sah ihren Gast aus Europa missbilligend an.
»Wir alle mussten uns mit den Duvaliers irgendwie arrangieren, waren von ihrem Wohlwollen abhängig. Das können Sie General Namphy doch nicht vorwerfen?«
Jules nickte zustimmend versöhnlich.
»Und heute? Wer hält heute die Fäden der Macht in der Hand? Wer lässt die Puppen nach seinem Willen tanzen? Ist es bereits Präsident Manigat und seine Verbündeten oder noch immer General Namphy mit seinen Leuten?«
Der Gesichtsausdruck der Frau wurde erneut vorsichtig, ja, sie schien längst zu bereuen, sich mit dem Schweizer auf dieses Gespräch eingelassen zu haben. Sie machte eine Körperbewegung, als wollte sie sich vom Stuhl erheben und weggehen, entschied sich dann doch zum Bleiben.
»Sie sollten nicht solche Fragen stellen, Monsieur Lederer. Das kann hier in Haiti schnell zu gefährlichen Missverständnissen führen.«
Damit stand sie nun doch auf und drehte sich ab, um zu gehen. Jules hielt sie jedoch mit einer weiteren Frage noch einmal zurück: »Wenn ich hier in Haiti ein Haus kaufen wollte, sagen wir mal, ein Hotel, an wen müsste ich mich da wenden?«
Emanuela Grandis stutzte, dachte nach, wahrscheinlich jedoch nicht über einen Namen, sondern bloß über das mögliche Risiko, das sie mit einer ehrlichen Antwort einging.
»Ich meine eine Person, die sämtliche rechtlichen und politischen Probleme für mich lösen kann«, stocherte Jules nach.
»Avocat Muller, an der Rue Eden«, gab sie ihm nun doch Auskunft, biss sich gleich danach auf die Unterlippe, als hätte sie etwas Falsches gesagt.
»Kann mir diese Kanzlei denn in jedem Fall weiterhelfen, egal, ob eher die alte oder ob die neue Regierung vom Kauf betroffen ist?«
»Avocat Muller ist Avocat Muller«, gab sie kurz angebunden zurück, als hätte Jules am Sockel einer Gottheit rütteln wollen. Doch dann wandte sich die füllige Mulattin abrupt von ihm ab und verließ den Frühstücksraum fast fluchtartig.
*
Sie schien klein und unbedeutend. Auch wies nichts auf Immobiliengeschäfte hin. Muller & Cie. war auf dem Bronzeschild an der Eingangstüre zu lesen, ohne Hinweis auf eine Kanzlei oder ein Notariat. Jules klingelte und nach ein paar Sekunden öffnete sich die schwere Holztür elektronisch und mit kurzem Summton, sprang einen schmalen Spalt weit auf. Der Schweizer trat in ein großzügiges Vorzimmer, hinter dessen einzigem Pult eine verbrämt dreinblickende, dunkelhaarige Frau von sechzig oder mehr Jahren saß und ihn durch eine schwarze Hornbrille kritisch musterte.
»Bonjour, Monsieur, vous désirez?«
»Ich komme für eine Auskunft«, quittierte Jules die französisch gestellte Frage mit einer Antwort in Englisch.
»Um was geht es?«
Die etwas bärbeißig wirkende Vorzimmerdame hatte sich seinem Englisch nahtlos angepasst.
»Ich soll für einen Klienten einige Immobilien hier in Haiti erwerben und suche einen erfahrenen Rechtsbeistand, der mich beraten und anleiten kann. Man hat mir Mister Muller wärmstens empfohlen.«
Sie blickte ihn forschend abschätzend an.
»Woher kommen Sie?«
»Aus Europa. Doch der Käufer der Immobilien ist US-Amerikaner. Stellt das ein Problem dar?«
Sie gab ihm keine Antwort: »Avocat Muller ist ein sehr beschäftigter Mann. Ich weiß nicht, ob er die Zeit findet …«
»Wenn er mir nur zwei Minuten gewährt. Ich bin mir sicher …«
Die Frau lächelte Jules auf einmal derart freundlich an, dass er sich verunsichert gleich selbst unterbrach.
»Monsieur Muller kann Sie jetzt empfangen. Bitte treten Sie ein.«
Damit wies sie auf eine der drei Bürotüren, die aus dem Vorzimmer führten. Jules überflog das Pult der Vorzimmerdame, sah das Kästchen mit den Lämpchen und dem grünen Schein reflektiert an ihrer Hand, blickte hoch zur Zimmerdecke und erkannte die Kamera, nickte der Frau zu.
»Vielen Dank, Misses…?«
Sie antwortete ihm nicht, sondern widmete sich wieder irgendeiner Schreibarbeit, so als hätte sie ihn nicht gehört.
Jules klopfte kurz und leise an die von ihr bezeichnete Tür und trat ein. Rechtsanwalt Muller stellte sich als ein schlanker Mann von mindestens fünfundsechzig Jahren heraus. Er besaß graues, kurzgeschnittenes Haar, einen sauber gestutzten Knebelbart, der wie ein schmutziger Eiszapfen an seinem Kinn hing und kleine, listig-flinke und aufmerksame Augen, die vom ersten Moment an eine suggestive Kraft auf Jules ausübten.
»Bitte, Mister Lederer.«
Jules war sich sicher, bislang seinen Namen noch gar nicht genannt zu haben, auch nicht gegenüber der Vorzimmerdame, und war entsprechend perplex.
»Sie kennen mich?«, fragte der Schweizer darum ehrlich erstaunt und reichte dem Anwalt, Notar oder Advokat die Hand. Dessen Rechte fühlte sich fest und kühl an, schien allzeit beherrscht und bot der seinen exakt so viel Gegendruck, wie notwendig war, um Stand zu halten, aber kein Quäntchen mehr. Muller hieß Lederer bitte Platz zu nehmen.
»Lassen Sie mich mit zwei Fragen beginnen«, riss Jules das Gespräch vorerst an sich und fuhr auch gleich fort, als er Muller stumm nicken sah, »wie darf ich Sie ansprechen? Mister Muller? Oder Avocat Muller? Notaire?«
»Mister genügt vollkommen.«
»Und woher kennen Sie meinen Namen?«
Der Anwalt lächelte, jedoch nicht etwa fröhlich, freudig, mitleidig oder arrogant, sondern entwaffnend amüsiert.
»In Port-au-Prince geschieht wenig Wichtiges, von dem ich nicht erfahre.«
»Und meine Ankunft war wichtig? Für wen denn?«
Das Schulterzucken von Muller zeigte dem Schweizer, dass ihm sein Gegenüber keine Antwort geben würde.
»Dann wissen Sie bereits, warum ich hier bin?«
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