Kendran Brooks
Sapientia
11. Abenteuer der Familie Lederer
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Inhaltsverzeichnis
Titel Kendran Brooks Sapientia 11. Abenteuer der Familie Lederer Dieses ebook wurde erstellt bei
Vorgeschichte
1988 – für Heinz
1991 – für Aleksandra
1997 - für die Queen
1999 – für Sergej
2003 – für alle Peter dieser Welt
2005 - für nichts
2006 – für Gott?
2007 – alles für Alina
2008 – alles umsonst
2009 – für Zheng He
2010 – für Chufu und Mei
2011 – für das Kind
2012 – für wen?
2013 – für Jules
2014 – für das Leben
Impressum neobooks
Sapientia war schon vor langer Zeit zu seinem bevorzugten Rückzuggebiet geworden, zu einem Ort, der ihn umgab wie eine warme, weiche Wolke des Wissens, des Könnens, der Vernunft und nicht zuletzt der Beherrschung. Überhaupt. Beherrschung. War das nicht eine der wichtigsten Eigenschaften für jeden Menschen? Zu jeder Zeit?
Jules Lederer hatte sich jahrelang in asiatischen Kampfsportarten geschult, war darin ein wahrer Meister geworden, konnte seinen Körper als höchst effiziente Waffe einsetzen, seine Finger wie Dolche, seine Arme wie Schwerter, seine Beine wie Lanzen, seinen Körper als Rammbock. Er war gefährlich. Das wusste er. Aufgrund seines täglichen Trainings und einigen handfesten Auseinandersetzungen. Doch er spürte diese Kraft auch im Alltag beständig, selbst wenn er ruhig an der Hochschule St. Gallen im Vortragssaal saß und irgendeinem Professor gelangweilt oder interessiert zuhörte. Oder wenn er durch die Straßen und Gassen der Stadt streifte oder sich mit Kollegen zu einem Bier oder Essen traf. Denn das Wissen um seine Gefährlichkeit verlieh ihm ein hohes Selbstbewusstsein. Und das Selbstbewusstsein sorgte für zusätzliche Gewissheit und damit Gefährlichkeit. Denn Körper und Geist waren in eine perfekte Symbiose getreten, befruchteten sich gegenseitig, trieben sich ständig weiter an und hoch.
Zumindest bis zu diesem einen Tag, als er die Beherrschung gegenüber Boris verlor. Der ekelhafte Russe hatte ihn zuvor aufgezogen und verhöhnt, nannte ihn ein Weichei und eine Bonsai-Spargel. Jules durchschlug daraufhin mit einem Jumok Jirugi die Deckung des 30-jährigen aus Jaroslawl problemlos. Der Schlag kam für den Russen zu ansatzlos und viel zu schnell. Seine Nase wurde ihm dabei zertrümmert, die Oberlippe gespalten. Noch vier Wochen später waren die Blutergüsse an der Stirn, an den Wangen und um die Augen herum auszumachen. Jules Lederer wurde von allen Seiten mit Vorwürfen übergossen und Meister Hiro Kashi verbannte ihn sogleich und auf Lebzeiten aus dem Dojang.
Später am selben Abend und zurück in seiner recht tristen 1-Zimmer-Wohnung im dritten Stockwerk einer verlotterten Mietskaserne an der Waldaustraße, nachdem er sich auf der einzigen Herdplatte die Ramen vom Vortag aufgewärmt und sich am winzigen Tisch niedergesetzt hatte, ohne Appetit die Nudelsuppe aus dem kleinen Topf löffelte, da tauchten seine Gedanken das erste Mal ein, entschwanden ihm nach Sapientia, von einem Augenblick zum nächsten, ohne Vorzeichen, ohne Vorwarnung, auch ohne Übergang. Kurz vorher spürte er noch, wie sich seine Dura mater, dann die Arachnoidea und unmittelbar danach die Pia mater zu verflüssigen schienen und sein Gehirn zwischen den Knochen seines Schädels sanft zu schaukeln begonnen hatte. Gleichzeitig umhüllte ihn ein strahlendes Licht, so plötzlich, so grell, dass er die Tischplatte mit dem Suppentopf und seine Hand mit dem Löffel nicht mehr erblicken konnte und geblendet seine Augenlider zusammenkniff, gleichzeitig aber eine ungeheure Ruhe und den vollkommenen Frieden in sich spürte, in diesem unbestimmbaren, neblig-warmen Weiß. Jules entspannte sich vollends, konnte loslassen, vergaß jeden Gedanken, an den Ausschluss aus dem Dojang, an die unangenehme Aussprache mit Meister Hiro Kashi und selbst an seinen Gewaltausbruch gegen den unerträglichen Boris. Nein, Jules blieb in diesen Sekunden (oder vergingen gar Minuten?), ohne jedes Bild oder Sprache, befand sich einfach nur dort, in diesem Land der Erkenntnis, des Wissens, der völligen Klarheit, fühlte sich darin geborgen und sicher aufgehoben.
In den folgenden Wochen und Monaten fragte er sich immer wieder, ob er womöglich einen Blick in den Himmel werfen durfte und für Momente die Gnade irgendeiner Gottheit erfahren hatte. Doch Jules war alles andere als religiös, lehnte auch jede Form kirchlicher Autorität ab, verabscheute sämtliche ihrer Riten, hatte nur Hohn und Spott für gläubige Menschen übrig. Und doch. Dieses Erlebnis begann ihn immer stärker zu beschäftigen, ließ ihn nicht mehr los. Denn er sehnte sich zurück in sein neues Sapientia, in dieses friedvolle Land, das keine Grenzen zu kennen schien und voller Klarheit, Wissen und Möglichkeiten steckte.
Immer krampfhafter versuchte Jules dorthin zurück zu gelangen, kochte gar den Ramen exakt so nach, wie ein paar Tage zuvor, wärmte ihn zur selben Stunde auf, setzte sich mit demselben Topf an seinen Tisch, brachte sich mit Hilfe von Zazen zur Ruhe, versenkte sich in Satori, hatte trotzdem keinen Erfolg. Unerreichbar erschien ihm dieses so unvermittelt neu entdeckte Land und gleichzeitig als der einzige Ort, der für ihn noch erstrebenswert war.
Wochen später, an einem Samstagabend, nachdem er mit Kollegen viel zu lange in einer Bar herumgehangen und gebechert hatte, kam in seinem benebelten Gehirn diese blödsinnige Idee auf, wurde rasch zu einer Manie. Ja, ein Faustkampf musste her, würde wohl endlich die Voraussetzung schaffen, um nach Sapientia zurückkehren zu können. Jules wusste hinterher nur noch unklar, wie er einen bulligen Kerl zuerst verbal und danach auch noch handgreiflich anpöbelte, wie der ihn an den Jackenaufschlägen mit beiden Händen packte und hinaus auf die Straße zerrte, wie ihn Fäuste trafen, ins Gesicht und in den Leib, wie das Adrenalin trotz Alkoholpegel in ihm hochkochte und er sich mit ein paar Tritten und Schlägen rasch Luft verschaffte, den Mann dann mit einem gewaltigen Mureupchagi direkt auf den Solarplexus traf und den Kerl so zu Boden fällte, wie ihn gleich danach seine Kollegen umringten, auf ihn einredeten oder schrien, ihn packten und rasch wegführten von diesem Ort der Gewalt, noch bevor die Polizei eintraf und ihn festnehmen konnte.
Die Staatsgewalt fand ihn trotzdem, holte ihn schon am nächsten Morgen in seiner Wohnung ab, verkatert und desorientiert wie er war, führte ihn in Handschellen die Treppen nach unten, stieß ihn in den Streifenwagen, fuhr ihn auf ein Revier. Ein uniformierter Beamter befragte ihn nur kurz und Jules gab bereitwillig Auskunft, gab auch alles zu, an das er sich noch erinnern konnte oder was ihm zumindest plausibel erschien, seine Provokationen, seinen Gewaltausbruch. Er wurde ein paar Stunden später einem Richter vorgeführt. Der bot einen Wald-und-Wiesen-Hausarzt auf, der die von der Justiz erwartete oder verlangte Diagnose abgab. Er bezeichnete Jules als unkontrolliert und selbstmordgefährdet und so ließ ihn das Gericht zur weiteren Abklärung in eine psychiatrische Einrichtung einweisen.
Drei Wochen verbrachte Jules dort mit unsinnigen Gesprächen, meistens vollgepumpt mit irgendwelchen Drogen, vor allem Beta-Blockern, die ihm den Lebensmut nehmen sollten. Doch auch die Medikamente führten ihn kein einziges Mal zurück nach Sapientia, schienen ihn bloß immer weiter aus der realen Welt zu reißen, in eine neblig-trübe Suppe von Leben.
Überhaupt. Der Name. Sapientia. Damals kannte er ihn noch gar nicht, hatte keine Bezeichnung für diesen für ihn so erstrebenswerten Ort. Vielleicht gelang ihm deshalb der Sprung dorthin nicht mehr?
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