»Du weißt ganz genau, was damals in Kairo mit Malika geschah«, meinte die Chinesin kühl und Chufu musste trocken schlucken, erinnerte sich höchst ungern an das grausame Schicksal der jungen Gomaa, an die Bilder ihres so sinnlosen Todes, die sich für immer in seinem Gehirn und in seiner Seele eingebrannt hatten, die er verdrängen, aber nicht vergessen konnte.
»Doch bei Shamee liegt der Fall doch ganz anders. Sie ist Atheistin und glaubt an nichts und niemanden«, warf Chufu in ihre Diskussion ein, wurde von Mei jedoch ebenso energisch abgewiesen: »Du vergisst, auf welche Art und Weise dein Vater vorzugehen pflegt. Bitte versteh mich richtig. Ich mag Jules zwar als Mensch gut leiden, auch wenn er mir manchmal unheimlich ist. Auf jeden Fall geht er mir aber zu verbissen und vor allem zu rücksichtslos vor, gegen sich selbst, wie auch gegen andere. Ein paar Mal erschien er mir richtiggehend bösartig, beinahe tollwütig. Nein, Schatz, tut mir leid, aber das Leben meiner Schwester möchte ich niemals in den Händen deines Vaters sehen.«
Chufu gab selbstverständlich nach, hatte keine Argumente gegen die Anschuldigungen seiner Freundin, stellte sich jedoch genauso vehement der Idee von Mei entgegen, erneut Henry Huxley um Unterstützung zu bitten.
»Henry hat doch genug eigene Probleme, ich meine mit Sheliza. Wir dürfen ihn nicht auch noch mit unseren Sorgen belasten. Das wäre nicht in Ordnung, auch nicht gegenüber Holly. Und wenn du ehrlich bist, mit Henry zusammen hatten wir damals in Kairo wenig bis gar nichts erreicht, oder?«
Das stimmte zwar auch, klang jedoch aus dem Mund des jungen Philippinen ziemlich abfällig und Mei zog darum eine unwillige Schnute.
»Ja, ich weiß«, beteuerte er deshalb rasch, »du bist ein großer Fan von Henry«, und er umarmte seine Freundin und küsste sie zärtlich.
Sihena Ling empfing an diesem Morgen neue Bewerber für den Posten des Majordomus für ihren Haushalt. Ihr langjähriger Angestellter, Aílton Santoro, war vor einigen Monaten von Unbekannten in seinem Zuhause ermordet worden und den jungen Carlos Forano, der sich danach um die Organisation des Haushalts der Lings gekümmert hatte, war von Sihena gleich nach ihrem heftigen Streit mit Shamee fristlos entlassen worden, entweder aus guten Gründen oder aber aus einer ihrer Launen heraus. Doch auch darüber schwieg sich die Chinesin aus. So bildeten derzeit die langjährige Köchin Marta Gonzales-Vinerva und das Zimmermädchen Naara Huaterdo die stark geschrumpfte Dienerschaft des Hauses, neben den Torwächtern und den unvermeidlichen Bodyguards. Doch auch das hielt Sihena nicht davon ab, weiterhin als verbiesterte Tyrannin aufzutreten und Köchin wie Dienstmagd immer wieder zu schikanieren, sie geradezu zu quälen. Es schien, als müsste sich die Herrin des Hauses mit den beiden Hausangestellten fast täglich reiben, um den ständig steigenden Dampfdruck auf dem Feuer ihrer inneren Wut auf Tochter Shamee oder andere Menschen wenigstens über dieses Ventil immer wieder abzubauen.
»Die braucht endlich wieder mal einen guten Fick«, meinte Naara despektierlich. Sie saß unten in der Küche am Mitarbeitertisch und war einmal mehr den Tränen nahe, »sie wird mit jedem Tag unausstehlicher, gereizter und gemeiner. Wie ein eingesperrter Tiger, der sich jeden Moment aus lauter Wut und Hass selbst zerfleischen wird, zuvor jedoch noch alles in seinem Käfig zerschlagen und zerreißen muss.«
»Sei still, böses Kind«, wurde sie von Marta Gonzales-Vinerva zurechtgewiesen, »hier verdienst du doch gutes Geld? Dort draußen aber«, und sie meinte die Großstadt Rio de Janeiro, »gehst du rasch vor die Hunde. Vor allem mit deinem nichtsnutzigen Freund.«
Damit meinte sie Antonio Vivaldo, ein blendend aussehender junger Brasilianer, der leider in den meisten praktischen Dingen des Lebens ein kläglicher Versager war, ob es sich um eine feste Anstellung, ausreichendem Verdienst und auch nur um regelmäßig bezahlte Arbeit handelte. Dass Naara weiterhin zu ihm hielt und ihm oft genug mit ihrem knappen Einkommen aushalf, das konnte Köchin Marta allerdings gut und gleichzeitig schmerzlich verstehen, hatte sie sich bislang doch auch nicht von ihrem Ehemann Marinos getrennt, der in seinem Leben endgültig gescheitert war und sie stockbetrunken manchmal sogar schlug, wenn sie ihm kein Geld geben wollte oder konnte. Doch die Bürde, die einem der Liebe Gott im Leben auferlegte, die hatte man klaglos zu tragen. Amen.
Trotz ihres eigenen, demütigen Verhaltens gegenüber ihrem oft betrunkenen Marinos redete die Köchin immer wieder eindringlich auf die junge Naara ein, doch nicht denselben Fehler wie sie zu machen und sich und ihr Leben nicht noch länger für einen Nichtsnutz wegzuwerfen.
»Aber wenn mein Antonio auch nur ein einziges Mal mit einer seiner Ideen Erfolg hat?«, führte das Zimmermädchen einmal mehr dagegen an.
»Glaub mir, Naara, wenn mich das Leben eines gelernt hat, dann das: Nur Leute, die an einer Sache dranbleiben, die fest an diese eine Chance glauben und sich auch durch Rückschläge nicht beirren lassen, es immer wieder versuchen und bei jedem Scheitern dazulernen, es das nächste Mal besser machen, nur solche Leute haben irgendwann Erfolg. Wer jedoch wie dein Antonio oder auch mein Marinos stets von einer halb ausgegorenen Idee zur nächsten springt, sobald die ersten Schwierigkeiten auftauchen, der ist viel zu schwach, um jemals erfolgreich zu sein.«
Die Köchin stemmte die Fäuste in ihre Hüften, sah voller Bitterkeit auf die junge Frau am Küchentisch, erkannte in deren Gesicht dieselbe Demut vor dem Herrn, die sie selbst empfand, dieselbe Ergebenheit vor dem eigenen Schicksal. Unfähig und unwillig, das Leben in die eigenen Hände zu nehmen, stattdessen stets bereit, dem Fluss der Dinge einfach zu folgen oder sich von ihm treiben zu lassen, auch wenn der Wasserfall längst nicht mehr zu überhören und die Klippen bereits zu sehen waren.
Es klingelte an der Haustür oben und Naara zuckte zusammen.
»Der nächste eingebildete Idiot«, meinte sie und erhob sich seufzend vom Stuhl, wirkte müde und abgespannt.
»Vielleicht mal ein hübscher?«, mutmaßte die Köchin über den nächsten Kandidaten für den Posten des Major Domus, »einmal muss das Glück doch auch uns beide treffen?«
Zenweih Ling blickte in seiner Stadtwohnung erstaunt auf, als der mächtig dröhnende Gong der Haustüre anschlug. Entweder der Wohnungseigentümer oder der Vormieter hatte seiner Vorliebe für Dramatik nachgegeben und sich den Klang von Londons Big Ben installieren lassen. Melodisch zwar, aber viel zu wuchtig, raumfüllend und erschlagend.
Der Chinese erhob sich mit einem unbewussten, leisen Ächzen vom Sofa und schleppte sich mehr, als dass er ging, hinüber zur Sprechanlage.
»Ja?«, fragte er, den Knopf gedrückt haltend.
»Senhor Ling?«, tönte es elektronisch hässlich verzerrt und doch erkennbar männlich-jugendlich aus dem Lautsprecher. Die überaus schlechte Qualität der Sprechanlage entsprach der Bastelarbeit eines überforderten Hobby-Installateurs, dem wahrscheinlich auch noch die richtigen Bauteile gefehlt hatten.
»Ja.«
Die Stimme von Zenweih verriet einen grollenden Ärger, entweder ob der schlechten Sprechverbindung oder über die Störung seiner Mußestunde an diesem Abend.
»Ich bin es, Carlos Forano.«
Viel Hoffnung war aus der Stimme des jungen Brasilianers heraus zu hören, drang überaus deutlich an die Ohren des chinesischen Restaurantbesitzers, der das Bild seines früheren Hausdieners sogleich vor Augen hatte.
»Komm herauf«, antwortete Zenweih nach kurzem Zögern und drückte den Türöffner zum Haupteingang.
Sein Luxus-Appartement lag in der obersten Etage des zwölfstöckigen Gebäudes. Neben einer separaten, für Besucher unzugänglichen Feuertreppe, gab es nur den Privatlift, der mittels Schlüssel unten oder elektronisch vom Appartement aus geöffnet werden musste. Zenweih blickte auf seine Armbanduhr und begann, die Zeit zu messen. Dabei schürzten sich seine Lippen zu einem grimmigen Lächeln, während er den Sekunden zuschauten, wie sie zäh und doch stetig zerrannen, sanft und doch so unerbittlich. Wie lange würde der junge Brasilianer wohl benötigen, bis er herausgefunden hatte, dass er die neue Wohnung seines früheren Arbeitgebers weder über den öffentlichen Aufzug noch über das Treppenhaus erreichen konnte, sondern nur über den abgesonderten, privaten Aufzug, beim dem er sich über die Sprechtaste erneut anmelden musste? Eine Minute war bereits verstrichen und Zenweih vermutete, Carlos Forano würde noch mindestens drei weitere brauchen. Doch dann summte die Sprechanlage erneut und zeigte mit dem entsprechenden Blinklicht an, dass jemand vor dem Privatlift unten stand.
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