Die Straße auf und ab ist sie gelaufen nach dem Strumpfband, dem elenden Gummi. Findste doch ni mehr, haben die Leute gesagt, als Susanne zum soundsovielten Mal den Weg absuchte. Wird schon nich so schlimm sein. Bloß e Strumpfband, na! Was wissen die Leute. Der Mutter ist gleichgültig, ob es ein Knopf ist, ein Strumpfband oder etwas wirklich Wertvolles. Verlust kann sie nicht ertragen. Unerhört sind für sie Beschädigungen an der Kleidung. Da muss sie den Ochsenziemer nehmen, da setzt es Schläge auf den Blanken, da muss sie losschlagen mit aller Kraft, dass Striemen zurückbleiben. In der Schulzeit wird Susanne froh sein, wenn die Striemen so liegen, dass sie nicht unter der Turnkleidung herausschauen. Die schlimmsten Schläge aber erhält sie, warum bloß, im Kleinkindalter, mit zwei, drei, vier Jahren. Susanne ist es leid. Sie wird die Strafe nicht auf sich nehmen, eine Wut ist in ihr, sie fasst einen Entschluss. Fein anziehen wird sie sich und weggehen. Sie nimmt ihr blaues Mäntelchen mit dem weißen Kragen von der Garderobe, setzt ihr Käppchen auf, blau mit weißroten Streifen, ein Gummiband hält es unter dem Kinn fest, packt in ihr Kinderrucksäckchen frisch eingekaufte Vorräte ein, die noch in den Keller gebracht werden sollen, Mohrrüben, Mohn, nicht viel. Schlüpft aus dem Haus, aus dem Hof, läuft den Ort hinaus. Marschiert. Hat die Tour der Mutter Richtung Falkenau im Kopf. Zur reichen Marschall-Bäuerin will sie, die wird sie schon nehmen. Die Marschall-Bäuerin hat keine Kinder. Weil sie gern welche hätte, ist sie zu Kindern freundlich. Susanne hat eine lange Wegstrecke vor sich. Von Zeit zu Zeit schaut sie sich um. Zu Hause wird Susannes Verschwinden bemerkt. Rosie gibt eine Arbeit vor. Nie wird sie Susanne heimholen. Soll es die machen, vor der Susanne wegläuft. Andere Angestellte werden ausgeschickt. Die sich auch nicht mühen, Susanne zu finden. Die Mutter ist es, die Susanne einholt. Dieses erste Mal, als Susanne ausrückt. Jedes spätere Mal wieder. Susanne erblickt die Mutter, beginnt zu rennen, wie man es einem Fallsuchtkind gar nicht zutraut. Die Angst macht ihr Beine. Die wilde Entschlossenheit, sich nicht fangen zu lassen. Die Mutter erschöpft sich hinter dem wetzenden Kind. Hat sie das nötig? Sie sucht sich Helfer. Jungs, fangt mir mal das Kind ein!, ruft sie am Hang tollenden Jungen zu. Ja, Frau Boehm & Burkard!, schreien die, sind wie nichts den Hang herunter, ergreifen die Ausreißerin. Die lässt sich - fassungslos über so viel Gewalt - schlappe Arme, schlappe Beine, zur Mutter führen. Was solln das Deader?, sagt die Mutter. Das sin mir ja scheene Unartn. Na komm mer nur nach Hause, du undankpoares Kind! Die Jungen feixen. Die Mutter wendet sich den Jungen zu. Ich zeich mich schon erkenntlich, sagt sie. Du bist doch der und der und du der? Sie nennt die richtigen Namen. Das macht eine Geschäftsfrau aus, dass man möglichst schon die Kinder mit Namen kennt. Die Mutter läuft, dass Susanne kaum nachkommt. Die Jungen geben Geleitschutz. Solln mer Ihn helfen, Frau Boehm & Burkard? Nee, nee, geht ner, geht ner! Durch den Ort zu gehen, ist kein Vergnügen. Alles Kunden, die ihnen begegnen. Gudn Tach, Frau Sowieso, Gudn Tach, Herr Sowieso, grüßt die Mutter nach rechts, nach links. Weil offensichtlich ist, dass sie mit ihrer Tochter während der Ladenöffnungszeit nicht einfach spazieren geht, fügt sie eine Erklärung hinzu. Se hat mal wieder ihrn Rappel, de Nanne, kee Vater nich da, wie soll mer fertich wern mit dem Kind. Zu Hause hat sich Rosie was ausgedacht, um Susanne der Strafe zu entziehen. Frau Purgert, Se müssn glei noch mit de Babier-Fabrik telefoniern!, ruft sie. Geschäft geht vor. Susanne bekommt Ohrfeigen, dass ihr Hören und Sehen vergeht, doch der Ochsenziemer bleibt ihr erspart.
Das Ausrücken wird zur Gewohnheit. Mal muss es Susanne doch schaffen, bis zur Marschall-Bäuerin zu kommen!
Wieder einmal hat sich Susanne auf den Weg gemacht, wieder einmal hat die Mutter sie zurückgeholt. In den Lattenkeller sperrt sie Susanne. Nie mehr in den Kohlenkeller. Hat sie Mitleid? Ist es wegen des Protests der Hausbewohner? Die Mutter lässt das Vorhängeschloss schnappen, schließt ab. Susanne sieht in den Holzspänen neben dem Hackklotz ein Beil blinken. Sie nimmt es auf, lässt die Mutter ein Stück weit den Kellergang laufen, ehe sie den Arm aus dem Lattenkeller streckt und das Beil wirft. Treffen will sie nicht. Aber ein Zeichen setzen! Alles lässt sie sich nicht gefallen. Das Beil fällt auf den Boden. Die Mutter bleibt stehen. Hm, hm, macht sie. Geht weiter, schließt oben die Kellertür zu, dass kein Hausbewohner mehr hineinkommt. Stunden lässt sie Susanne im Keller. Ist das Wort Heim schon einmal gefallen? Als die Mutter gar nicht aufschließt, hat Susanne jedenfalls den Gedanken, die Mutter überlege jetzt, ob sie Susanne in ein Heim gibt. Als Tochter ihrer Mutter. Noch hat Susanne keine Zweifel, hat verdrängt, vergessen. Wird man mit Kindern nicht fertig, kann man sie in ein
Heim stecken. Endlich schließt die Mutter die Kellertür oben, den Lattenkeller unten auf. Denn gib mich doch glei innen Heim!, sagt Susanne. Hier willch sowieso nich mehr bleim! Friedlich sagt sie es und bitter. Sie will nicht mehr von der Gnade der Mutter leben. Die Mutter antwortet nicht. Offener Krieg ist von nun an. Die Mutter kann Susanne schlagen, einsperren. Susanne kann sagen: Na, da gibste mich ehmd innen Heim. Na, da machstes ehmd. Die Mutter wird dann still. Doch berechnen lässt sich nichts. Einmal kann die Mutter den Mund aufmachen und sagen, dass sie genau das tun wird. Susanne hängt sich an andere Erwachsene ihrer Umgebung. An die schöne Frau Landmann. An Rosie. Solange Rosie im Haus ist, hat Susanne immer Beistand, weiß, sie ist im Recht. Mach dir nischt draus, Nannchen, sagt Rosie. Deine Mutter is keene gude. Se is genau wie deine Oma war. Das war oo keene gude. Nach dem Krieg ist niemand mehr, an den sich Susanne halten kann.
Der Lattenkeller, nun auch Luftschutzkeller, verliert an Schrecken. Nach jedem dritten Mittagessen etwa landet Susanne dort, denn das Essen bleibt ein Hauptstreitpunkt.
Der Lattenkeller ist mit Stühlen, einem Sessel, einem Kackstuhl ausgestattet. Bekommt Susanne im Laufe des Nachmittags Hunger, ist durch Rosie gesorgt. Rosie hat im Löschsand - sorgsam in Papier eingewickelt - Mohrrüben, etwas Brot versteckt. Und dann holt sich Susanne Gesellschaft. Das Fenster steht einen Spalt breit offen. Susanne schiebt den Kackstuhl ans Fenster, steigt hoch, erwischt den Riegel, öffnet das Fenster, könnte aussteigen, aber was brächte das schon. Mucki! Mucki! Der Laden liegt auf der Straßenseite, der Lattenkeller zur Hofseite hin. So kann man im Laden ihre leisen Rufe nicht hören. Mucki! Mucki! Die Katze ist abgefüttert und auf den Hof gelassen worden. Mucki pfötelt, Susanne lockt mit vorgekautem Brot. Die Katze springt in den Keller. Susanne muss sie bei Laune halten. Ist ihr langweilig, wird sie dem Verließ wieder entspringen. Susanne raschelt mit Holzwolle. Eine Maus! Eine Maus! Wo is die Maus? Die Katze starr, setzt zum Sprung an, wird getäuscht. Der Finger ist immer schneller. Die Katze wird müde. Susanne macht sich's mit ihr im Kackstuhl bequem, isst ihre Möhren. Was will sie noch! Die Mutter wundert sich: Fünf Uhr am Abend und noch kein Gebrüll. Einmal findet sie beide, Susanne eingeschlafen auf ihrem Thron und in ihrem Schoß die Katz. Sie weiß nicht, ob sie lachen oder weinen soll. Aber Strafe muss sein. Rosie, Sie sind mir verantwortlich, sagt sie. Arme Rosie. Muss gehorchen. Muss dafür sorgen, dass das Kind keine Katz in den Keller kriegt.
Der Krieg nimmt überhand, die Arbeit auch. Schier unmöglich ist es, genügend Ware heranzuschaffen, schwer ist es, ausreichend Nahrung zu besorgen. Man kann sich nicht mehr um Susanne kümmern. Nanne, nu musste aber innen Kinnergardn, heißt es. In der Straße, in der sie wohnen, befindet sich ein moderner Kindergarten, eingerichtet mit einfachen, stabilen Holzmöbeln, kleinen Holztischen, an denen die Kinder sitzen, einer Spielecke. Der Führer schaut herab von seinem Bild auf Erzieherinnen und Kinder. Susanne brüllt, wird nach Stunden wieder zu Hause abgeliefert. Aber so, wie es war, ist es zu Hause nicht mehr. Nun bemerkt Susanne: Der Krieg hat alle Fröhlichkeit mit sich fortgenommen. Die Frauen sprechen kaum mehr miteinander, haben ihre Arbeit im Kopf, ihre Sorgen. Selbst Rosie lacht nicht mehr mit ihr. Susanne steht den Frauen im Wege. Einige Wochen geht das so. Dann gibt sich die Mutter einen Stoß. Jetz musste innen Kinnergardn, sagt sie. Wenn de in de Schule kommst, musste oo mit annern Kinnern zusammen sein! Susanne bekommt eine neue Umhängetasche und alles in sie hineingesteckt, was sie gern isst: Möhren, Kommissbrot. Ach, wirscht schon een finden, tröstet Rosie. Jetz sin viele Kinner von unsrer Ecke dort. Der Hembel-Dieter zum Beispiel, der Sohn von Tierarzt Dr. Hembel! Susanne hat den Jungen manchmal gesehen. Leichtes Blut hätte er, sagt man, von seiner Mutter. Leichtes Blut heißt, er hat etwas übrig für Unsinn. Hembel-Dieter könnte Susanne also gefallen. Und er gefällt. Im Kindergarten treffen sie aufeinander, werden im Augenblick Freunde. Hempel-Dieter unterweist Susanne, wie sie umgehen kann, den roten Lebertran zu schlucken, in dem noch Fäden schwimmen. Regelmäßig erscheint Dr. Richter, untersucht die Kinder, lässt sie dann in einer Reihe antreten und gibt Lebertran aus. Mir stelln uns vorne als erschte an, sagt Hempel-Dieter. Das Zeuch schluckste ne, das brauchste ne. Machstn Mund auf, behälst es im Mund. Wenn die sagt: nu schluck, machste wie'n Pferd, was wiehern dut, mit der Nase nach ohm, aber schluckste ne runter! Susanne und Hempel-Dieter stellen sich vorn an, bekommen ihren Löffel verabreicht, treten aus der Reihe heraus, gehen hinter einen Pfeiler, schauen nach rechts, nach links, sprühen den Lebertran aus dem Mund, jeder in eine andere Richtung. Erwischt werden sie nie. Susanne erwacht morgens voll Leichtigkeit, denkt an den Kindergarten. Sie wird weggehen von der Mutter, den Sorgen, wird zu den Kindern gehen.
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