Sonntagnachmittag. Zum Löbn müssen sie. Eine der älteren Schwestern des Vaters hat dort das Kommando. Die Hanni wirtschaftet mit ihr, die Tochter, eine Person mit riesigen Zähnen. Die Schwester des Vaters hat der Mutter früher das Leben schwergemacht. Weil die Mutter schön war und die Hanni eben nicht. Dann hat die Hanni doch geheiratet. Das Geld bescherte ihr einen Adligen zum Mann, einen Offizier. Einen von Dahlen. Zwei erwachsene Söhne hatte die Hanni. Der eine war bei der Waffen-SS, auf den waren sie stolz. Der ist ganz jung gefallen. Der andere ist nicht schön und durchtrieben. Doch weist er alle Rassemerkmale auf, sodass man ihn dazu ausersehen hat, viele deutsche Kinder zu zeugen. Ein Zuchthengst ist er, man spricht verächtlich von ihm. Susannes Mutter liebt ihre reiche Verwandtschaft nicht. Hach, wenn mir bloß nich dahin brauchtn!, jammert sie. Da sin mir doch bloß de Dreckbutteln! Susanne ist am Nachdenken, warum die Mutter sich noch heute alles gefallen lässt von der Verwandtschaft. Sie bezieht die Unwürdigkeit auf sich. Vielleicht schämt sich die Mutter für Susanne und lässt sich ihretwegen zum Dreckputtel machen? Verwandtschaft ist Verwandtschaft. Man muss hin, muss sich gut stellen. Die Mutter geht nach der Begrüßung gleich in die Küche, bindet sich die Schürze um, macht das Dreckputtel. Susanne sieht, wie sie sich vergnügt, reißt vor der Schwester des Vaters aus, die ständig Kopfnüsse verteilt, hält sich an deren Mann, den Mardin. Martin führt Susanne ins Vereinszimmer, steckt Blechmarken in die Spielautomaten. Susanne kann Pferderennen veranstalten, oder sie hebelt, um eine Metallkugel in eine der Gewinnlöcher zu bekommen. In Friedenszeiten würde das Geld rasseln. Stattdessen spendiert Martin. Ein blecherner Hahn hat sowieso immer eine Überraschung für Susanne bereit. Wieder braucht Martin eine Blechmarke, um die Maschinerie in Bewegung zu setzen. Der Hahn beginnt zu krähen. Und - oh Wunder - trotz männlichen Geschreis legt er ein Ei, sehr groß, lilagolden. Darin sind kleine Ostereier. Das Ei darf Susanne mitnehmen. Hat sie die kleinen Ostereier aufgegessen, bringt sie das große Ei zurück. Der Hahn wird wieder krähen und wieder - oh Wunder - ein neues Ei gebären. Der Mardin is wie e Kindl, tadelt seine Frau. Das ist Susanne schon lustig, dass Martin ein Kind sein soll, wo er gar nicht so aussieht. Einen Schnauzer trägt er, die Haare hat er kurzgeschoren. Das Schicksal hat für seine böse Frau, die ältere Schwester des Vaters, eine Strafe parat. Ungeduldig, wie sie nun einmal ist, hat sie in die laufende Waschmaschine gegriffen. Die Trommel drehte sich, erfasste ihren Arm. Der halbe rechte Arm ist hin. Der Arm, mit dem sie Schellen austeilt. Ein Stummel ist er nur. Das nennt Susanne Gerechtigkeit.
Erst weinte Rosie viel. Nun weint sie nicht mehr. Ihr Verlobter ist ins Frankenberger Lazarett verlegt. Frankenberg ist Garnisonsstadt, Militär liegt dort. Man könnte auch sagen, es sitzt, steht, läuft. Doch im Lazarett liegt es zumeist. Susanne hat eine wunderbare Vorstellung von Lazarett, dort sind Soldaten zur Erholung, werden umsorgt, trinken Tee, von Mädchen um Tante Martha gesammelt. Die wunderbare Vorstellung verwandelt sich in eine andere, als Rosie sie eines Tages ins Lazarett mitnimmt. Nach Äther riecht es. Die Soldaten liegen mit Verbänden in den Betten, manche stöhnen. Das ist dann doch keine so schöne Erholung. Sprachlos schaut Susanne zu den Indern, was die für braune Haut, schwarze Augen und Haare haben. Wie kommen diese Menschen nach Deutschland? Susanne lässt die Verlobten allein, geht von Bett zu Bett, beneidet die Soldaten trotz ihrer Verwundung. Im Augenblick sind sie wohl krank. Doch werden sie wieder gesund, ziehen wieder in den Krieg und erleben etwas. Und was dagegen erlebt Susanne! Sie probiert die Uniformen der Soldaten an, setzt sich die Mützen auf. Die Soldaten lachen, schenken ihr Bonbons, Vollmilchdrops, einer sogar eine kleine Mundharmonika. Was Susanne am liebsten von ihnen hätte, dürfen sie nicht wegschenken: ihre Orden.
Unbedingt muss Susanne seither Orden und Ehrenzeichen haben. Aber wie, wenn sie kein eigenes Geld besitzt? Du hast alles, du brauchst nischt, sagt die Mutter immer. Wenn de was ham willst, kannstes saachn. Un wenn's denn nich geht, geht's nich. Jeden Tag kauft Susanne beim Bäcker ein und kommt an der Auslage eines kleinen Ladens vorbei. Auf Kissen sind Schulterklappen der Luftwaffe angeheftet und alle möglichen Orden und Ehrenzeichen. Susanne hat keine Ruhe mehr. Sie spricht mit Rosie. Kannste nich saachn, die Jacke von deim Werner is weg, un nu musste neue Abzeichn koofn? Rosie geht auf diesen Vorschlag nicht ein. Susanne drückt sich die Nase an der Auslage platt, geht auch in den Laden hinein, lässt sich zeigen. Schließlich sagt die Besitzerin: Du hast es gestern gesehn un vorgestern un vorchte Woche warste da. Un vorm Ladn stehste oo jeden Tach. Nu kennste alles. Nu brauchste hier nich mehr zu stehen. Die Besitzerin spricht mit der Mutter. Die Mutter spricht mit Susanne. Die nimmt nicht Vernunft an, wie sie soll. Dann scheint es Abhilfe zu geben. Vom Winterhilfswerk werden Märchenfiguren als Porzellan-Anstecker angeboten, Froschkönig, tapferes Schneiderlein, Dornröschen und so weiter. Boehm-Otto kauft eine ganze Karte, die Mutter nur zwei Anhänger. Ach, mer tun genuch forn Kriech, sagt sie, bezieht sich darauf, dass sie im Kränzchen Socken für die Soldaten strickt. Boehm-Otto ermahnt daraufhin die Mutter. Gerta, sieh dich vor, mir sin Geschäftsleute! Susanne stolziert herum, sämtliche Porzellananstecker des Onkels am Mantel. Doch weil sie rennt, klettert, fällt, entflieht ihr die Pracht schnell, macht sich aus dem Staub beziehungsweise fällt in denselben. Wieder steht Susanne zum Missvergnügen der Besitzerin vor dem Laden, betrachtet das Glitzerzeug. Mit den Alarmen, der Verdunkelung kommt Leuchtschmuck auf, der auch ganz schön ist, denn er strahlt mitten in der Dunkelheit. Erst Jahre nach dem Krieg kann Susannes Sucht nach Orden, Medaillen befriedigt werden. Als Schülerin, Junger Pionier, dann Thälmannpionier erfüllt sie die Bedingungen für jeweilige Abzeichen, für Gutes Wissen, für die jährlich vergebenen Sportabzeichen, in Gold und Silber für Wintersport, Leichtathletik. Ihre Jacke ist linksseitig bedeckt mit Klimperkram, rechts die Abzeichen vereinzelt.
Tiere erregen immer Susannes Interesse. So auch die Ziegen, die am Tetzel'schen Hang weiden, insbesondere der Ziegenbock. Prächtig seine Hörner. Geht Susanne zu Tetzels, Ziegenmilch zu holen, besucht sie die Ziegen. Sie stellt ihre Milchkanne ab, läuft Hang aufwärts, streichelt das feste kurze Haar der Tiere. Ruhig geht sie auf den Bock los. Der guckt blöd, bös, steht still, der Strick zum Pflock straff gespannt. Plötzlich senkt er seine Hörner, greift an. Susanne setzt es auf den Hintern. Sie steht auf. Kampflustig. Nimmt die beiden Hörner des Ziegenbocks, stößt den Bock zurück. Der senkt wieder die Hörner, stößt ins Leere. Susanne packt erneut seine Hörner, schubst ihn, dass er zu Boden geht. Vor und zurück, auf und nieder. Endlich hat Susanne den Gegner, den sie fassen kann. Einen gleichwertigen, solange der Strick hält, der Pflock fest im Boden ist. Nachbarn beobachten den Kampf zwischen Kind und Bock, informieren die alte Tetzel, die auf krummen Beinen angehutscht kommt. Aber Nanne, Kind, das mache doch nich, das is doch gefährlich!, ruft sie. Geh weg vom Bock, nu gehe schon! Susanne bekommt ihre Milch, einen Viertelliter die Woche. Den Ziegenbock kann Susanne nicht in Ruhe lassen, muss ihn bei den Hörnern nehmen, sobald sie ihn sieht, egal, was es für blaue Flecken, für Dresche nachher gibt, wenn er ihr die Kleidung zerreißt. Und dabei gewöhnt sie sich nicht an die Schmerzen, die Demütigung des Auspeitschens. Was isses bloß, dass de nich gehorchen kannst, sagt die Mutter. Selbst mit elf, zwölf Jahren kommt sie nicht so ohne weiteres an dem Ziegenbock vorbei, kämpft mit ihm, kann sie Augenzeugenschaft ausschließen.
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