»Guten Abend Franz. Wir haben keine neuen Erkenntnisse, aber wie die Lage sich darstellt, müssen wir von seinem Tod ausgehen. Wir wissen, dass es sein Boot ist, das gefunden wurde. Es stammt aus dem Bootshaus des RV. Dort hatte Herder sein privates Boot liegen. Er war dabei, neue asymmetrische Paddel auszuprobieren, was immer das auch für Paddel sind.«
»Ich kenne solche Paddel. Die Blätter sind asymmetrisch, aber auf beiden Seiten gleich.«
»Habe ich verstanden. Danke.«
»Kann ich davon etwas verwerten?«
»Schreib was du willst. Aber lass das Testen der Paddel weg. Ich habe es selbst nur nebenbei erfahren. Das kann kein Allgemeinwissen sein. Vielleicht ist es gar nicht schlecht, wenn die Öffentlichkeit mehr über den Fall erfährt. Die Leute halten Augen und Ohren offen, weil sich jeder als Detektiv betätigen möchte. Entschuldige, dass ich dich nicht hereinbitte, aber du weißt, wenn ich Nachrichten von einem Tötungsdelikt erfahre, gerade bei einem jungen Menschen, dann bin ich nicht für ein Bier zu haben.«
»Entschuldig die Störung, Albert. Nichts für ungut. Schlafe eine Nacht drüber. Morgen früh geht wieder die Sonne auf und die Welt dreht sich weiter. Die Menschheit kann das Unrecht nicht ausmerzen. Es fing bei Adam und Eva an, führte direkt in der nächsten Generation zum Mord von Kain an Abel und setzte sich mit dem Streit der zwölf Söhne von Jakob fort und mit dem Verkauf von Josef an die Ägypter gingen die Kriege los. Das ist nur die Geschichte der Bibel. Überall auf der Welt gibt es ähnliche Aufzeichnungen.«
»Wusste gar nicht, dass du so ein solcher Historiker bist.«
»Weißt du, Albert, als Kind habe ich diese ›Biblische Geschichte‹ eher für ein Buch der Sagen gehalten, genauso wie ich die griechischen und römischen Sagen gelesen habe.«
Berendtsens traurige Miene hellte sich auf.
»Du hast ja recht, Franz. Schönen Abend noch und gute Nacht.«
Er betrat die Küche. »Was gibt’s zum Abendessen?«
Albert ging es besser.
6. Kapitel – Donnerstag, 12. September
Berendtsen meldete sich am anderen Morgen auf dem Weg zu seinem Büro bei Uschi an und bediente sich unaufgefordert mit einer Tasse Kaffee, die bei ihr immer bereitstand. Er zog eine Papiertüte mit zwei belegten Brötchen aus seiner Aktentasche und biss hungrig hinein.
»Ich habe noch nicht gefrühstückt. Ich komme vom Arzt und musste Blut abnehmen lassen«, erklärte er mit vollem Mund. »Gibt es Neuigkeiten?«
»Die Taucher haben Fritz Herders Handy gefunden«, begann Uschi ihren Lagebericht. »Es ist zur Wiederaufbereitung auf dem Weg in die Technik. Roland Schubert weiß Bescheid. Er nimmt es sich sofort vor. Von Herder selbst findet sich weiterhin keine Spur.«
»Wenn er wirklich ertrunken ist, dann können wir nichts machen. Wir können nur warten, bis er auftaucht«, murmelte Berendtsen vor sich hin und nahm einen kräftigen Schluck Kaffee.
Hallstein klopfte an Uschis offenstehende Bürotür. »Guten Morgen zusammen. Schlechte Nachrichten?«, schloss er mit Blick auf Berendtsens sorgenvolle Miene.
»Das Handy haben wir, aber von Herrn Herder fehlt weiterhin jede Spur«, informierte Uschi.
»Wir müssen davon ausgehen, dass Herder der Mann ist, den Frau Dr. Kötter beobachtet hat. Wahrscheinlich ist er nicht aus eigener Schuld gekentert, denn zum einen war er ein erfahrener Ruderer und zum anderen, so durchtrainiert, wie diese Leute sind, hätte er sich leicht ans Ufer retten können.«
Berendtsen entdeckte die neue Wanduhr in Uschis Büro. Bahnhofsdesign. Halb elf.
»Neu?«
»Aber Chef …!? Die hängt hier seit August. Ich habe sie auf der letzten Tombola auf dem Sommerfest im Altenheim gewonnen.«
»Was haben Sie mit einem Altenheim zu tun?«
»Ich besuche Leute, die keine Angehörigen haben und plaudere ein wenig mit ihnen. Bei schönem Wetter fahre ich auf Wunsch mit manchen durch den Park oder in die Stadt, ganz wie sie wollen.«
»Ich wusste gar nichts von deinem sozialen Engagement«, staunte Hallstein. »Seit wann machen Sie das?«
»Seit einem halbe Jahr. Die Mutter meines Freundes lebt dort. Sie ist neunundachtzig Jahre alt, noch recht gut beisammen, aber sie traut sich nicht mehr, ihren Haushalt allein zu führen. Wir besuchen sie oft. Dabei ist uns aufgefallen, dass manche Leute keinen Besuch bekommen. So kümmern Micha, seine Mutter und ich uns um diese Bewohner.«
»Sehr nobel. Wirklich beispielhaft.«
»Alle Achtung. Respekt«, pflichtete Berendtsen bei. »Aber zurück zum Thema. Können Sie kurz bei Kötter durchschellen, dass wir auf dem Weg zum Institut sind? Wir können gegen halb elf dort sein.«
Uschi schlug die Rufnummer nach. Berendtsen und Hallstein machten sich auf den Weg.
****
Der Pförtner erwartete die Kommissare, meldete Berendtsen und Hallstein im Sekretariat an und führte sie in einen Konferenzraum, wie man ihn kennt, funktionell, dabei sehr nobel. Kirschbaummöbel und teure Bilder. Mehrere Fotografien von Mannschaften mit Pokalen. Ein Schwarz-Weiß-Foto mit Siegerpose von Rudolf Decker und dem jungen Dr. Kötter, wie Hallstein erklärte. Ehe sie sich recht umschauen konnten, erschien der Professor in Begleitung seines Cheftrainers. Beide in weiße Trainingsanzüge mit schwarzen Streifen und bekannten Sportlogos gekleidet mit den entsprechenden hellgrauen Sneakers aus Mesh.
»Sie wollten mich sprechen, Herr Berendtsen? Herr Hallstein, guten Tag. Darf ich Ihnen den Kollegen Hans Korte vorstellen? Er leitet das Trainingszentrum. Haben Sie etwas dagegen, wenn er anwesend ist? Wir haben gerade das Tagesprogramm besprochen. Es geht um Fritz Herder, teilte uns Frau Bremer mit?«
Hans Kortes Statur übertraf die Figur seines Chefs an Größe und an Kraft um mehr als eine Nuance. Beide Sportler standen kerzengerade und aufrecht gestreckt den Kommissaren gegenüber, die Hände auf dem Rücken gefaltet.
»Selbstbewusste Erscheinungen«, dachte Berendtsen und blickte seinen Kollegen an, der ebenso zu denken schien.
»Was ist passiert?«, fragte Korte
»Herder wird vermisst«, erklärte Hallstein.
»Wann haben Sie zuletzt mit ihm Kontakt gehabt?«, fuhr Berendtsen fort.
»Am Wochenende vor acht Tagen. Wir hatten am Samstag und Sonntag unsere Jahresabschlussfahrt und haben mit einem Grillabend abgeschlossen«, antwortete Kötter. Das sogenannte ›Fröhliche Beisammensein‹, wie man so sagt. Mit diesem Betriebsfest beschließen wir in jedem Jahr die Saison«. Ein leichtes Lächeln lag auf seinem Gesicht. »In diesem Jahr wurde groß gefeiert. Zehnjähriges. Wir hatten ›Tag der offenen Tür‹. Es kamen viele interessierte Gäste, die in Gruppen am Sonntagnachmittag über das Gelände geführt wurden. Sogar die Presse war zugegen.«
»Danach wird aber das Institut nicht geschlossen?«
»Nein. Es gibt genügend Leute, die ihr Fitnesstraining ausüben, wie in jedem anderen Studio auch, die Reha‑Maßnahmen werden fortgeführt und nicht zuletzt beginnt das ›Große Sieben‹, wie die Jungen es nennen«.
»Worum handelt es sich beim ›Großen Sieben‹?«, fragte Berendtsen.
»Es handelt sich dabei um ein Trainingsprogramm, bei dem entschieden wird, wer im nächsten Jahr im Achter um die Deutsche Meisterschaft Platz nehmen darf. In diesem Jahr ist der Kampf sehr hart. Wir haben vier Kandidaten, die große Chancen haben.«
»Das klingt hart.«
»Nun, leicht ist es nicht. Die Jungs trainieren sehr ehrgeizig. Die einen wollen den Platz verteidigen, die anderen wollen einen erringen.«
»Nochmals zurück zum Fest. Wie lange hat dieser öffentliche Teil gedauert?«
»So … gegen sechs Uhr sind die letzten beiden Gäste gegangen - worden«, verriet Korte. »Es war nicht ganz einfach, denn die Eheleute kamen um zwei Uhr als erste recht ausgehungert hier an. Sie plünderten das Kuchenbuffet und ihr Durst konnte kaum gestillt werden. An dem Trainingszentrum hatten sie kein Interesse.«
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