„Die Stadt wird wachsen.“ Tucker strahlte Zuversicht aus. „Darin sind wir uns alle einig und bereiten uns darauf vor. Es mag ein Pokerspiel sein, Major, doch wir sind uns gewiss, ein gutes Blatt in der Hand zu haben. Es gibt bereits Vorgespräche mit einer Minengesellschaft, die sich für den Abbau in unserem Gebiet interessiert.“
„Gratulation“, sagte Matt ehrlichen Herzens. „Das klingt wirklich so, als könnte aus Lenningstown eine blühende Stadt werden.“
„Das wird sie ganz gewiss.“
Mary-Anne tupfte sich den Mund mit dem bereitliegenden Tuch ab. „Wir werden hier fast vierzehn Tage Urlaub verbringen, Mister Tucker. So wundervoll Ihr Hotel auch ist, so wollen wir doch auch ein wenig von den Sehenswürdigkeiten Ihrer schönen Gegend genießen. Können Sie uns da ein paar Empfehlungen geben?“
„Wären Sie beide Jäger oder Angler, dann wäre dies ein kleines Paradies für Sie“, versicherte Tucker und überlegte kurz. „Zwar bietet auch die Winterlandschaft ihren Reiz, aber die wahre Schönheit unserer Gegend offenbart sich erst im Sommer. Nun, neben unserer schönen aufstrebenden Stadt kann ich Ihnen die Brücke im Norden empfehlen. Eine sehr interessante Konstruktion. Sie könnten einen Ausflug in die Wälder machen oder auch zu Harrigans Ranch.“ Der Hotelbesitzer seufzte. „Wie gesagt, jetzt, im Winter … Würden Sie jagen oder fischen …“
Matt begriff, dass es eigentlich keinen nachvollziehbaren Grund gab, den Urlaub ausgerechnet in diesem Nest zu verbringen. Was für Hintergedanken verfolgte General Grant, dass er Matt dies eingebrockt hatte? „Offen gesagt, Mister Tucker, ist es uns ganz recht, dass es in dieser Gegend noch so angenehm ruhig ist. Meine Frau und ich haben uns über ein Jahr nicht gesehen und wir freuen uns auf etwas Ruhe und Einsamkeit.“
Mary-Anne strich über seine Hand. „Du meinst Zweisamkeit, mein Liebster.“
Matt errötete ein wenig. „Das meinte ich, ja.“
„Sie können die Gegend ja einfach erkunden“, schlug Tucker ein wenig verlegen vor. „Pferde oder Kutsche, das Union Star kann Ihnen beides ausleihen.“ Er zwinkerte Matt zu. „Eine Kutsche wäre sicher angenehmer, da man schön beieinander sitzt, wenn ich das einmal so sagen darf. Wir haben warme Büffelfelle und Decken und die Küche kann Ihnen einen leckeren Picknickkorb zusammenstellen.“
„Ein Picknick im Schnee.“ Mary-Anne klatschte in die Hände. „Oh, Matt, das ist eine gute Idee. Das haben wir schon sehr lange nicht mehr gemacht. Und natürlich nehmen wir die Kutsche.“
„Wunderbar“, sagte Tucker sichtlich erleichtert. „Ich werde alles vorbereiten lassen. In einer halben Stunde können Sie aufbrechen. Äh, Major, Sie sind doch bewaffnet? Also, nicht dass diese Gegend besonders gefährlich wäre. Wir haben hier keinerlei Ärger mit Indianern oder Banditen. Aber es gibt Bären und Wölfe, Sie verstehen?“
„Ich habe meine Spencer dabei und bin ein recht guter Schütze.“
„Nun, dann wäre auch das geklärt, denn sonst hätte ich Ihnen einen Begleiter besorgt. Schade, dass Croyden nicht in der Stadt ist.“
„Croyden?“
„Der beste Jäger und Scout in unserer Gegend. Der würde sicher ein paar Sehenswürdigkeiten kennen“, erklärte Tucker. „Leider ist der Mann ein Einzelgänger und lässt sich kaum blicken. Lebt in seiner Hütte, irgendwo in den Bergen. Ein komischer Kauz, aber vielleicht lernen Sie ihn doch noch kennen, wenn er zu einem seiner seltenen Besuche in die Stadt kommt. Oh, bei der Gelegenheit …“ Der Hotelbesitzer blühte förmlich auf. „Heute Abend ist im Saloon Hausmusik. Einige der Familien hier treten gegeneinander an. Das sollten Sie nicht versäumen.“
„Werden wir nicht“, versicherte Matt. „Liebling, du solltest dir etwas Passendes für unseren Ausflug anziehen.“
„Mein Reitkostüm liegt schon bereit und glücklicherweise habe ich pelzgefütterte Stiefel dabei.“
„Nun, dann steht unserem Vergnügen wohl nichts mehr im Wege.“
Eine gute halbe Stunde später bestiegen beide eine kleine offene Kutsche, vor der zwei kräftige Braune eingespannt waren. Matt übernahm die Zügel und Mister Tucker und ein Helfer wirkten überrascht, als Mary-Anne sich, nachdem sie die wärmenden Felle und Decken sorgfältig drapiert hatte, den Spencer-Karabiner von Matt über den Schoß legte. Die Bewegungen, mit denen sie sich von dem einwandfreien Zustand des Karabiners überzeugte, waren ein deutlicher Hinweis darauf, dass sie sich auf Schusswaffen verstand.
Matt ließ die Kutsche langsam vom Hinterhof des Union Star rollen und folgte dann der Hauptstraße nach Norden.
Über Nacht war kein neuer Schnee gefallen, der Himmel war klar und es würde ein sonniger Tag werden. In Decken und Pelze gehüllt, war die Kälte sehr gut auszuhalten. Matt bemerkte, dass Tucker die beiden Zugpferde durch zusätzliche Satteldecken und dicke Bandagen hatte schützen lassen. Letztere schützten die Fesseln der Pferde vor Verletzungen, wenn sie mit den Beinen durch die gefrorene Oberfläche der Schneedecke traten.
Matt ließ die Pferde im Schritt gehen und sie beide beobachteten das Treiben in der Siedlung, welche die Bezeichnung als Stadt noch lange nicht verdient hatte. Es war kalt und so waren nur jene unterwegs, die Besorgungen zu erledigen hatten. Einkäufe oder das Beschaffen von Feuerholz. Ein paar Kinder tollten herum und bewarfen sich mit Schneebällen.
Die Kutsche rollte an einer der Gassen vorbei, als Mary-Anne ihren Mann unvermittelt am Arm packte. „Warte, Matt. Sieh einmal dort entlang. Kannst du das Holzgerüst am Ende der kleinen Straße sehen?“
„Offensichtlich wird dort ein weiteres Haus gebaut“, bestätigte er schmunzelnd. „Ein ziemlich großes sogar. Da haben sie sich viel vorgenommen. Kein Wunder, dass sie vor dem Winter nicht damit fertig geworden sind.“
Sie lachte leise. „Ich bin gestern ein wenig spazieren gegangen und habe dabei erfahren, was dieser Bau einmal werden soll. Ein Theater.“
Matt sah sie überrascht an. „Ein Theater? Hier?“
Sie nickte und ihr Gesicht wurde unerwartet ernst. „Offen gesagt, Matt, ich fürchte, die Leute hier sind ein wenig größenwahnsinnig.“
„Zumindest sind sie von ihrer Zukunft und der ihrer Stadt überzeugt.“ Matt schüttelte ungläubig den Kopf, dann ließ er die Pferde weitergehen.
Rechts die Stadt und links der Schienenstrang, ging es langsam voran, bis sie Lenningstown verließen und Matt das Gespann in einen gemächlichen Trab fallen ließ. Mary-Anne kuschelte sich an ihn, so weit dies möglich war. „Sag einmal, Matt“, fragte sie unvermittelt, „wie bist du eigentlich auf die Idee gekommen, dass wir uns ausgerechnet in Lenningstown treffen?“
Er musste lachen. „Das war eigentlich nicht meine Idee, sondern die von Grant.“
„General Grant?“
„Genau der.“
Sie runzelte die Stirn. „Und wie kam unser hoch geschätzter General auf diese glorreiche Idee?“
„Das hat er mir leider nicht verraten“, gestand Matt missmutig.
„Grant ist ein schlauer Kopf“, meinte sie. „Der hat sich das nicht ohne Grund einfallen lassen. Matt, ich habe das Gefühl, wir sollten unsere Augen offen halten.“
Sie fuhren die Überlandstraße der Postkutschenlinie entlang nach Norden. Erneut weckte Mary-Anne die Aufmerksamkeit ihres Manns. „Das scheint der Friedhof zu sein.“
Rund drei Kilometer außerhalb des Orts, zwischen dem Fluss einerseits und Straße und Bahnlinie andererseits, lag der Friedhof von Lenningstown. Es gab keine Einfriedung, aber ein einsames schmiedeeisernes Tor, über dem ein Schild mit dem Schriftzug „Cemetary“ hing. Mancherorts nutzte man im Westen auch die Bezeichnung „Boot Hill“, doch die friedlichen Bewohner von Siedlungen starben nicht zwangsläufig in ihren Stiefeln.
Die Kutsche rollte auf das Areal zu und Mary-Anne richtete sich ein wenig auf. Außer dem Schild und dem Tor war nicht viel zu erkennen, mit Ausnahme einiger flacher Hügel, die sich kaum noch unter dem Schnee abzeichneten. „Matt, was weißt du über Gräber?“
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