Matt verstand den Infanteristen. Einerseits mochten die Männer hier froh sein, nicht in der Schlacht kämpfen zu müssen, andererseits waren sie tatsächlich ziemlich isoliert. „Die Größe des Depots hat mich überrascht“, gestand er. „Wie viel Mann sind hier stationiert?“
„Offiziell zwei Kompanien der 3rd Nebraska Volunteers, aber wir haben hier nur 147 Mann, unsere beiden Offiziere eingerechnet.“
„Das ist wenig für eine Anlage dieser Größe.“
„Yep, ist es. Wir hatten hier ein paar Ausfälle. Krankheit, Unfall und sogar zwei Desertionen, Sir. Auch einen Selbstmord.“ Ein entschuldigender Blick traf Matt. „Ist die verdammte Einsamkeit hier draußen, Sir. Jedenfalls bekommen wir kaum Ersatz für die Verluste. Ich schätze, was sich zur Army meldet, das geht in die Regimenter an der Front. Für uns interessiert sich Washington nicht.“
„Das trifft sicher nur teilweise zu, Sergeant. Ich stehe mit meinen Männern an der Front und ich kann Ihnen versichern, dass wir es verdammt zu schätzen wissen, dass wir unseren Nachschub bekommen. Ohne Ausrüstung, Verpflegung, Waffen und Munition kämpft es sich verdammt schlecht.“
Der Sergeant nickte mit zufriedenem Gesicht. „Wir geben uns alle Mühe, dass alles läuft, Sir. Wir geben auf die Sachen acht, die man uns anvertraut. Wir sorgen dafür, dass sich nirgends Schimmel oder Rost ausbreitet und dass die Truppe bekommt, was sie benötigt.“
„Sagen Sie, Sergeant, das Depot ist doch direkt bei der Stadt. Da müsste es doch genug Abwechslung geben, so dass keine Langeweile aufkommt.“
„Na ja, wissen Sie, das hier ist irgendwie eine komische Stadt. Ich glaube, die Leute hier mögen uns Soldaten nicht besonders.“
„Vor allem der verdammte Sheriff“, kam erneut eine Stimme von hinten. „Der Kerl ist echt hinter unseren Jungs her. Der fischt jeden Betrunkenen von der Straße und steckt ihn ins Jail, und unser Lieutenant muss immer wieder hingehen und unsere Jungs auslösen.“
„Yeah“, folgte eine andere Stimme in breitem Slang. „Der Drecksack hat durch uns einen netten kleinen Nebenverdienst.“
„Halt die Klappe, Harmon“, knurrte der Sergeant. „Ihr werdet doch immer wieder gewarnt, euch in der Stadt zu benehmen. Die Leute dort schätzen halt Ordnung.“
„Vor allem der Sheriff“, setzte der Gescholtene nach.
„Harmon.“ Die Stimme des Sergeants war gefährlich ruhig.
„Schon gut, Sarge, ich bin ja schon still. Außerdem sind wir gleich da.“
Der Planwagen war in den offiziellen Farben des Ordnance Departments gehalten. So selten der Anblick dieser Fahrzeuge, mit blauen Wagenkästen, rotem Fahrwerk und weißer Plane, auch anderswo war, weil sich im Krieg kaum jemand die Mühe machte, die militärischen Frachtwagen in diesen auffälligen Farben zu streichen, für die Bewohner von Lenningstown war er ein gewohnter Anblick, der keine Aufmerksamkeit erweckte. Das änderte sich allerdings, als einige der Stadtbewohner erkannten, dass da ein Major der Kavallerie auf dem Bock saß. Prompt begleiteten ein paar Passanten den Wagen auf seinem Weg ins Stadtinnere, auch sie von der Neugierde getrieben.
Während der Fahrt durch die kleine Stadt fiel Matt sofort auf, wie viel Mühe sich die Bewohner gegeben hatten. Die meist eingeschossigen Häuser waren sehr sorgfältig gebaut und gestrichen worden. Breite Stepwalks zogen sich an den Fronten entlang, Balken stützten die Vordächer. Die meisten Fenster waren klein, denn Glas war teuer und musste aus größerer Entfernung angeliefert werden. Zum Stadtzentrum hin gab es jedoch auch zweigeschossige Bauten, teilweise mit großen Schaufenstern und bunten Schildern. Letztere wiesen, ebenso wie die Auslagen, auf den Beruf des jeweiligen Hausbesitzers hin. Hier zeigte sich für Matt, dass Lenningstown wohl zu den aufstrebenden Gemeinden gehörte und zu wachsen gedachte.
An einer Kirche wurde eine Erweiterung gebaut, ebenso an dem Schulgebäude, mit der typischen Glocke über der Eingangstür. Matt sah nicht nur die Angebote der üblichen Handwerksbetriebe, sondern sogar einen Schmuckladen und ein Modegeschäft, was ihn, hier oben im Territorium, durchaus erstaunte.
Die Häuser waren, wie üblich, eng aneinander gebaut und ließen allenfalls Raum für eine enge Gasse, die von der breiten Hauptstraße abzweigte. Matt fielen zwei große Lücken auf.
„Die hatten hier ziemliches Pech im letzten halben Jahr“, erklärte der Sergeant. „Gab ein paar Brände und auch ein paar Todesfälle.“ Er zuckte mit den Schultern. „Genaueres weiß ich da auch nicht. Die Leute hier reden nicht gerne darüber. Ah, da vorne ist der Union Star. Ihre Lady wird sich sicherlich freuen, Sie endlich wiederzusehen.“
Das Union Star, ein quadratisches und sogar dreigeschossiges Gebäude, war ein regelrechter Prunkbau, den man in einem doch relativ kleinen Ort nicht erwartet hätte. Die Front war in Unionsblau gestrichen, die Geländer in Weiß und die Handläufe in Rot. Dieselbe „patriotische“ Farbkombination, die auch der Planwagen des Sergeants aufwies. Die Stützbalken waren mit Schnitzereien verziert und das riesige Schild, über dem breiten Aufgang zum Stepwalk, zeigte rote und weiße Längsstreifen und einen großen blauen Stern.
„Wünsche einen angenehmen Aufenthalt, Sir“, meinte der Sergeant, als sich Matt vom Bock schwang und seinen Koffer griff. „Und vergessen Sie Ihr Versprechen nicht.“
„Keine Sorge, Sergeant, ich werde das Depot besuchen“, versicherte Matt, der allerdings kaum noch auf seine Begleiter achtete, denn etwas anderes nahm seine volle Aufmerksamkeit in Anspruch.
Mary-Anne hatte die Ankunft des Wagens gehört und war aus dem Eingang des Hotels auf den Stepwalk hinausgetreten.
Mary-Anne Dunhill, Tochter des reichen Händlers John Jay Jones, der sein Geschäft von Virginia aus betrieb. Eine echte Lady des Südens und zugleich die Frau eines Yankee-Offiziers. Eine Frau, die ihren Vater, ihren Mann und ihren Sohn gleichermaßen liebte und die, so sehr sie dem Süden auch verbunden war, niemals von Matts Seite weichen würde.
Mit ihren fünfundvierzig Jahren war sie sieben Jahre jünger als Matt und sie war noch immer eine schöne Frau, mit einem ebenmäßigen Gesicht, in dem die klugen Augen dominierten. Ihre Figur hatte sich ein wenig gerundet, doch Matt fand, dass ihr das ausgezeichnet stand. Seine Frau hatte in seinen Augen nichts von ihrem natürlichen Liebreiz eingebüßt.
Mary-Anne gelang es, trotz des Kriegs, die Verbindung mit ihrem Vater aufrechtzuerhalten und dieser fand, obgleich ein überzeugter Südstaatler, versöhnliche Worte für Matt, der zwar ein feindlicher Soldat, aber zugleich, nach den Worten von „JJJ“, ein beachtenswerter Mensch war. Gleichgültig wie der Krieg auch enden mochte, er würde die Familie niemals wirklich trennen.
Mary-Anne trug ein hochgeschlossenes modisches Kleid mit einfachem Reifrock. Der smaragdgrüne Stoff war dezent bestickt. Sie hatte sich rasch einen wärmenden Mantel über die Schultern geworfen und fröstelte ein wenig in der Kälte, die sie draußen empfing.
Matt stand zwei Stufen unter ihr und ihre Blicke ließen einander nicht los.
Es gab Dinge, die sich für eine Lady und einen Gentleman einfach nicht schickten. Ein Kuss auf der Straße gehörte ganz sicher dazu. Doch hier fanden zwei Liebende zueinander, die sich über ein Jahr nicht mehr begegnet waren …
Kapitel 2 Die Bestätigung
Lucius Pembroke stieß mit dem goldenen Knauf seines Gehstocks gegen das Wagendach. „Zum Gentlemen’s Club, Kutscher. Der einzige verdammte Ort, an dem ein Mann noch vor den verfluchten Weibern seine Ruhe hat.“
Er nahm die Bestätigung des Fahrers kaum wahr, ebenso wenig wie den Betrieb auf den Straßen der konföderierten Hauptstadt Richmond. Lucius war verärgert. Wieder einmal war seine Tochter der Grund und wieder einmal ging es um die verdammten Sklaven. Allmählich bekam Lucius das Gefühl, er habe eine verfluchte Abolitionistin großgezogen. Seit dem Tod ihrer Mutter hing das Mädchen immer mehr seinen eigenen Ideen nach. Sie interessierte sich für Politik. Ausgerechnet Politik, ein Gebiet, von dem die Weiber ja nun wirklich überhaupt nichts verstanden. Es wurde Zeit, dass sie endlich heiratete und einen Mann bekam, der sie im Griff hatte. Politik. Ha! Camille sollte sich um andere Dinge kümmern und Kinder aufziehen.
Читать дальше