Während der erste Passagierwagen und der vorletzte Frachtwaggon den fünfundzwanzig Infanteristen der Eskorte vorbehalten waren, nutzten die wenigen Passagiere dieser Fahrt den zweiten Wagen. Dort saßen zwei weibliche und sieben männliche Fahrgäste. Man unterhielt sich gedämpft, las oder spielte Karten, wenn man sich nicht ein Schläfchen gönnte. Diese Passagiere mussten allesamt eine Verbindung zum Militär haben, da sie sonst keine Passage in einem Versorgungszug erhalten hätten. Zudem nahm kaum jemand ohne triftigen Grund die Risiken und Beschwernisse einer Zugreise auf sich.
Der einzige uniformierte Passagier im Abteil trug die Felduniform eines Majors der Kavallerie. Zu seiner Bequemlichkeit hatte der Mann den Säbel ausgehakt und den Revolver aus dem Holster genommen, doch beide Waffen waren griffbereit. Auch die anderen Fahrgäste waren ohne Frage bewaffnet. Die beiden Frauen besaßen sicherlich zumindest einen der kleinen Taschenrevolver, um sich bei einem Überfall verteidigen zu können.
An Stelle seines schwarzen Feldhuts trug der Offizier ein Kepi. Das an der Front angenähte ovale Emblem zeigte die goldgestickten gekreuzten Säbel der Kavallerie und darüber die in Silber gestickte Regimentszahl „5“. Die Adlerknöpfe der Jacke zeigten ein Schild mit dem Buchstaben „C“ ‒ für „Cavalry“ ‒ und wiesen ebenfalls auf den Offiziersrang hin. Noch weit aufschlussreicher war jedoch der kleine Handkoffer über dem Sitzplatz, der mit einem säuberlich beschrifteten Schild versehen war. „Major Matt Dunhill, 5th United States Cavalry“ war dort zu lesen. Der Anblick von Offizieren regulärer U.S.-Regimenter war, zumindest im hohen Norden von Nebraska, ungewöhnlich, da diese Einheiten im Osten oder Süden stationiert waren, wo sie gegen die Rebellen der Konföderation kämpften. Hier hätten die anderen Fahrgäste eher einen Angehörigen eines der vielen Freiwilligen-Regimenter erwartet.
Der Major hatte ein fein geschnittenes Gesicht, aber die Falten und die von Wind und Wetter gezeichnete Haut verrieten, dass er kein Garnisonsoffizier war, sondern mit seinen Soldaten im Feld stand. Das dichte dunkle Haar zeigte an den Schläfen die ersten grauen Strähnen. Der typische Dragonerbart verriet, dass dieser Mann tief mit den Traditionen der berittenen Einheiten verwurzelt war.
Der Kavallerie-Major war fraglos ein interessanter Mann. Vor allem für Damen, die sich auf der langen Zufahrt langweilten und einen kultivierten Gesprächspartner suchten. So war es nicht verwunderlich, dass sich die beiden weiblichen Passagiere schließlich erhoben und sich vorstellten, um dann mit der Frage anzuschließen, ob man nicht ein wenig Konversation pflegen könnte.
Major Matt Dunhill war durchaus bereit, ein Gespräch zu führen und die Fragen der beiden Damen zu beantworten, da diese höflich und mit der gebotenen Zurückhaltung gestellt wurden. Dabei zeigte sich, dass es sich um die Ehefrau und die Tochter eines Offiziers handelte, der in Laramie stationiert war und der seine Lieben nun zu sich holte. So erteilte Matt bereitwillig Auskunft darüber, dass er Sonderurlaub hatte und nach Lenningstown reiste, um dort seine Frau zu treffen.
Die ältere Dame konnte ihre Überraschung nicht verbergen. „Gütiger Gott, lieber Major Dunhill, da machen Sie aber einen weiten Umweg von Ihrer Garnison, um Ihre liebe Frau zu treffen. Sie sagten ja, diese komme aus Washington. Da wäre es für Sie beide doch wesentlich einfacher, sich in Ohio oder Kentucky zu treffen, anstatt ins abgeschiedene Nebraska zu fahren.“
Matt lächelte. „Da stimme ich Ihnen zu, Ma’am, aber wenn einem der General unerwartet Sonderurlaub gibt und den Wunsch äußert, man möge ihn in Nebraska verbringen, dann fragt man nicht groß, sondern packt den Koffer, bevor er es sich anders überlegt.“
Sie lachten herzlich und plauderten noch eine Weile, bevor sich die beiden Damen wieder zu ihrem Sitzplatz begaben, um sich auf den Ausstieg vorzubereiten. An der folgenden Station verließen sie den Zug.
Matt erinnerte sich an die Landkarte und überschlug, dass er noch einhundertachtzig Kilometer fahren musste, bevor er endlich sein Ziel erreichte. Er nahm erneut die Zeitung auf, in der er gelesen hatte. Die New York Times war nun schon drei Wochen alt, doch der Leitartikel betraf Matt und seine Familie unmittelbar. Vor einigen Wochen hatte es ein Massaker in einem friedlichen Indianerdorf gegeben. Nun fand eine Anhörung statt, da der Befehlshaber der Truppe, ein gewisser Colonel Chivington, eines unprovozierten Angriffs und unmenschlicher Grausamkeiten beschuldigt wurde. Mehrere Offiziere sollten gegen ihn aussagen und unter diesen befand sich Mark, Matts nunmehr siebzehnjähriger Sohn, der als Lieutenant in einem Freiwilligen-Kavallerieregiment der Union diente.
Wie jeder gute Vater sorgte sich auch Matt Dunhill um Mark. So, wie die Gedanken seiner Frau Mary-Anne, die er nach vielen Monaten endlich wiedersehen würde, sicherlich ihrem Ehemann und ihrem Sohn galten. Die Dunhills waren eine Militärfamilie und Mary-Anne war das Garnisonsleben gewohnt. Sie kannte die Risiken der Soldaten gut, die von Krankheit, Unfall, Verwundung oder Tod im Kampf bedroht waren, denn sie und Matt hatten zu einer Zeit geheiratet, in der die Armee gegen verschiedene Indianerstämme kämpfen musste. Gerade dies machte es für die hübsche Lady so schwer, zurückzubleiben und auf Nachricht von ihren Lieben warten zu müssen.
Matt und seine Mary-Anne hatten sich nun über ein Jahr nicht gesehen und wenn man die Familie vermisste, dann war eine Weihnacht stets eine einsame Angelegenheit, selbst innerhalb der Kameraden des Regiments. Matt war daher gleichermaßen überrascht und erfreut gewesen, als General Grant ihm, in einem persönlichen Gespräch, den unerwarteten Sonderurlaub angeboten hatte.
„Vier Wochen, Matt, in denen Sie endlich Ihre Frau wieder in die Arme schließen können“, hatte Grant ihm eröffnet. „Leider lässt sich eine Zusammenkunft mit Ihrem Sohn Mark nicht arrangieren. Sie wissen ja, diese Anhörung wegen Chivington … Nun, da wäre aber noch eine Kleinigkeit, Matt. Sie müssen Ihren Urlaub in Lenningstown verbringen. Nette kleine Stadt. Liegt oben im Norden, im Territorium von Nebraska. Wird Ihnen und Ihrer Frau dort gefallen.“
Matt Dunhill war sofort bewusst, dass hinter dem Urlaubsangebot mehr stecken musste. Grant war nicht gerade großzügig, was die Gewährung von Sonderurlaub betraf. Die Vorgabe, diesen an einem Ort zu verbringen, der Matt völlig unbekannt war und zudem noch einen gewaltigen Umweg bedingte, deutete klar darauf hin, dass der General eine bestimmte Absicht damit verband.
Natürlich hatte Matt versucht, die entsprechenden Informationen zu erhalten, doch Grant gab seinen Beweggrund nicht preis. Er hatte sich nur einen einzigen kleinen Hinweis entlocken lassen: „Matt, es ist wichtig, dass Sie dorthin reisen, und es ist wichtig, dass Sie das in einem, äh, privaten Anliegen tun. Mehr kann ich im Augenblick nicht sagen.“
Diese geheimnisvolle Andeutung war auch der Grund, warum Matt nicht nur seine Dienstuniform mitführte. Er ahnte, dass dieser Urlaub keineswegs so unbeschwert verlaufen würde, wie er sich das wünschen mochte, und hatte daher seine Felduniform, inklusive seines Karabiners und einiger Munition, im Gepäck verstaut. Matt besaß einen der siebenschüssigen Spencer-Karabiner, mit denen immer mehr Kavallerieregimenter der Union ausgerüstet wurden. Die Waffen hatten eine geringere Reichweite und Durchschlagskraft als die Sharps-Karabiner, da ihre Patronen eine geringere Treibladung aufwiesen, doch sie machten dies durch ihre hohe Feuerkraft mehr als wett. Zudem konnten die Konföderierten mit erbeuteten Waffen kaum etwas anfangen, da es ihnen nicht möglich war, die erforderliche Munition in nennenswertem Umfang herzustellen.
Matt Dunhill glaubte nicht ernsthaft an eine Gefahr, doch in Zeiten des Kriegs und wachsender Indianerunruhen war man besser auf das Schlimmste vorbereitet. Grant war allerdings nicht der Mann, der eine Frau bewusst einem Risiko aussetzte. So blieb der tatsächliche Grund für den unerwarteten Urlaub ein Rätsel und je näher das Ziel seiner Reise rückte, desto stärker wuchs die Anspannung in Matt.
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