Manchmal klebte noch Buttercreme in seinem Mundwinkel.
Sie hatte sich an ihn gewöhnt. Das ging so weit, dass sie ihn vermisste, wenn er mal nicht kam. Zusammen mit ihm war sie nicht alleine in der Buchhandlung. Er wurde zu ihrem Talisman, ein bisschen jedenfalls. Niemand hörte so geduldig zu wie er, was vermutlich damit zu tun hatte, dass er kaum mehr etwas hörte. Ein Hörgerät trug er nicht.
Nachdem er einige Zeit bei ihr aufgetaucht war, fand sie auf dem Tischchen neben seiner leeren Tasse einen winzigen Bären. Der war sorgfältig und in unglaublicher Feinarbeit aus einem Korken geschnitzt worden, einem gewöhnlichen Zapfen, wie er für das Verschließen von Weinflaschen benutzt wird. Julie konnte im Lauf der zwei Jahre, die sie den Laden führte, die Sammlung um eine Katze erweitern, um ein winziges Auto, einen Apfel, in den sich eine Raupe bohrte, und den Kopf einer Frau mit langen Haaren. Sie sah aus wie Julie. Das Fahrzeug war kein gewöhnliches Auto, sondern ein Citroën, wie ihr Vater ihn bevorzugt fuhr. Die, wie nebenbei liegen gebliebenen Geschenke, berührten sie.
Tata Charlotte kam immer Ende der Woche vorbei. Nachmittags, wenn sie um sechzehn Uhr Feierabend machte. Sie lief stets mit geradem Rücken schweigend durch die Buchreihen. Blieb gelegentlich stehen, hob eines der Bücher aus dem Regal, schob sich die Brille zurecht und las die Rückseite des Buchs. Ordentlich stellte sie es wieder in die Reihe. Sie konnte es nicht lassen, auch die anderen Bücher akkurat in eine Reihe zu stellen. Wenn einer der Einbände, auch nur wenig, aus der Reihe hüpfte, strich sie jedes mit den Händen so lange zurück, bis alle korrekt wie stramme Soldaten in Reih und Glied standen. Sie war immer tadellos angezogen, trug kniebedeckende Röcke und ein passendes Twinset dazu. Um ihren Hals baumelte die Brille an einer silbernen Kette. Mehr Schmuck trug sie nie. Wenn es regnete, hatte sie ihren weinroten Filzhut auf, den Julie noch von früher kannte. Tata Charlotte behandelte ihre Kleider gut, lebte sehr sparsam.
»Möchtest du einen Kaffee?«, fragte Julie Charlotte zögernd, als sie das erste Mal den Laden betreten hatte. Sie war im September mit allen Renovierungsarbeiten fertig und hatte vor einer Woche erst geöffnet. Im Laden befand sich niemand außer ihnen beiden.
»Ich trinke keinen Kaffee.« Erwiderte sie trocken.
»Möchtest du Tee, ich kann dir einen Tee kochen, wenn du willst.«
»Kamille bitte.« Julie wühlte in der Schublade mit den verschiedenen Teesorten.
»Ich habe keinen Kamillentee. Pfefferminze vielleicht. Oder Grüntee?«
»Nein.«
»Also nichts?«
»Richtig. Du warst lange weg. Warum bist du zurückgekommen?« Sie fragte forsch, während ihr prüfender Blick über Julie glitt, als suche sie etwas.
Die Direktheit befremdete Julie Sie war es gewohnt, sich vorsichtig an die Dinge heranzutasten. Langsam, um Zeit wirken zu lassen.
»Nun. Ich habe in Lausanne als Biologin unter Professor Markus Weisbrot gearbeitet. Ich brauche eine Pause. Hier fühle ich mich wohl.«
»Wie lange gedenkst, du zu bleiben?« Sie hatte ein spitzes Kinn, ihre Augen waren von einem wässrigen Blau. Eine hohe Stirn, die grauen Haare straff nach hinten gekämmt. Sie war angespannt, das konnte man an den Fingern sehen, die fest um den Bügel ihrer Tasche verkrampft waren. So sehr, dass die Fingerknöchel weiß hervor stachen. Sie erinnerten Julie an die Klauen eines Vogels.
»Ich habe keine Pläne. Solange es mir gefällt, Charly. Mir scheint, du hast ein Problem damit.«
»Nenn mich nicht Charly, meine Liebe. Du wirst dich hier langweilen. Hier passiert nichts. Der letzte Bus nach Chambéry fährt um 19 Uhr. Das ist kein Ort für eine Frau wie dich.«
Sie rauschte aus dem Laden, ohne etwas zu kaufen. Als sie das nächste Mal kam, hatte Julie Kamillentee gekauft. Tata Charlotte bat Julie, ihr ein Buch über Konfitüren zu bestellen, das neu herausgekommen war. Sie wollte entschieden keinen Tee.
Das war fast zwei Jahre her. Sie konnte mit der Abneigung von Charlotte umgehen, obwohl ihr die Ursache dafür weiterhin unbekannt war. Julie lebte sich gut ein, führte ein idyllisches Leben, wie sie es sich erhofft hatte. Zuweilen fehlte ihr der Pulsschlag der Stadt, das Nachtleben, die Konzerte und die nächtlichen Gespräche mit ihren Freunden. Der See, die Nachmittage, die sie dort verbrachte. Das Labor der Uni. Die Berge, die sie gemeinsam erklommen, André und sie und die anderen. Das quirlige Leben in dem Beruf, die Referate, die sie gelegentlich den Studenten hielt, wenn André nicht da war. Die Reisen, die sie zusammen unternahmen. Solche Anfälle der Melancholie überkamen sie bisweilen. Sie ergab sich dann den Erinnerungen, ließ sich treiben und wusste, dass diese Episoden immer weniger werden würden mit der Zeit. Inzwischen hatte sie gelernt, damit um zu gehen. Es war ihre Entscheidung, ihre Existenz zurück zu lassen und in Saint-Loup neu zu beginnen. Mit einem kargen Lohn in einem schäbigen, im Winter kaum heizbaren Haus zu leben. Die persönliche Freiheit sah jetzt so aus: viel selbstbestimmte Zeit, einen Liebhaber, der sich um sie bemühte und ein paar nette Kontakte, nicht zu persönlich, mit Leuten aus dem Dorf. Ein beschauliches Leben, gemütlich und klein, für das sie keine Koordinaten und Straßenschilder brauchte, um sich zurechtzufinden.
Es passte. Jetzt und für die nächste Zeit. Was danach kam, wenn Jean-Michel sterben würde und der Buchladen für immer schloss, war ihr egal. Die Zeit für eine neue Standortbestimmung stand noch aus.
Julie hob den Blick vom Bildschirm, als sie das Polizeiauto vorbei fahren sah. Sie hatten eine kleine Gendarmerie in Saint-Loup, mit beschränkten Aufgaben. Die Beamten unterstanden dem Polizeipräsidium Chambéry. Die Gendarmerie befand sich im gleichen Haus wie die Gemeindekanzlei. Zwei Polizisten wachten über Saint-Loup: Ein Junge, Jérôme Roux, der im Rahmen seiner Ausbildung ein halbes Jahr in Saint-Loup verbrachte und sich, wie er sagte, tödlich langweilte. Er hatte sich für ein Praktikum bei der Police Nationale in Marseille und Paris beworben. Dort, wo das Verbrechen agierte, wo die richtig bösen Jungs wirkten. Jérôme stand für Gerechtigkeit, der Jean-Claude Van Damme des Gesetzes. Ohne Furcht und mit viel körperlichem Einsatz wollte er Marseille von der Mafia befreien, die für die dortige Kriminalität zuständig war. Oder in den Banlieues von Paris für Ordnung zwischen den verfeindeten Gangs sorgen. Stattdessen hatten sie ihn in ein Kaff in der Provinz geschoben. Jérôme litt unter Heuschnupfen, seine Augen tränten ständig und das Atmen fiel ihm schwer. Er hasste den Geruch von Gülle, die Regen ankündigte und das träge Leben hier, das keinen Platz für Action zuließ. Der Internetempfang erwies sich als so schwach in Saint-Loup, dass er zeitweise nicht mal mit der Welt draußen verbunden war: wie das Leben auf einem fremden Stern, einer entfernten Galaxy. Er mochte Louis Perrin nicht, seinen direkten Vorgesetzten, der sich ständig ächzend den Bund der Uniformhose über seinen dicken Bauch zog und dessen Stuhl ob seines Gewichtes quietschte.
Zum Glück verließ er den Schemel tagsüber selten, dazu war er zu phlegmatisch. Wenn er sich bewegte, neigte er zu intensivem Schwitzen, was in ihrem kleinen Büro zu einer außerordentlichen Geruchsbelästigung führte. Die Fenster ließen sich zwar öffnen, die Luft von draußen brachte keine Erleichterung, sondern blies in den Raum provokativ Pollen, die seine Schleimhäute anschwellen ließen. Um dies zu vermeiden, hatten sie beschlossen, die Fenster für die Dauer seines Aufenthaltes geschlossen zu halten. Noch neunzig Tage. Dann wurde er versetzt. Diesmal womöglich nach Lyon. Das war gut. Alles war besser als dieses Bauernkaff.
Louis, der Bruder ihres Liebhabers Edouard, führte die Gendarmerie seit Jahren. Er fuhr jetzt temporeich am Schaufenster von Julie vorbei. Hinter ihm her raste Pepe mit seinem Fahrrad. Er stieg in die Pedale, als gelte es, die Tour de France zu gewinnen. Als würde er sich eine Verfolgungsjagd mit dem weißen Renault liefern. Manolo, der braunweiße Mischlingshund von Pepe, spurtete mit heraushängender Zunge hinter dem Fahrrad und seinem Herrchen her. Es hätte nicht viel gefehlt, und Julie hätte ob der Szene laut gelacht. Sie verließ ihren Platz am Computer, wischte sich die Hände am Kleid ab und ging vor die Türe in der Absicht, eine Zigarette zu rauchen. Die schwüle Luft schlug ihr ins Gesicht.
Читать дальше