Tata Charlotte war nicht nur für das Schlichten von Streitereien zuständig, sondern auch für die Überprüfung der Steuerformulare. Sie goss die Blumen, welche in Töpfen auf den Fenstern und neben der Treppe zum Gemeindehaus wuchsen. Und sie erteilte Bewilligungen für alles, was möglich war in Saint-Loup. Sie prüfte Steuererklärungen auf ihre Richtigkeit, kümmerte sich um die Einteilung der Gräber auf dem Friedhof und darum, dass Pepe, zuständig für die Sauberkeit in den Straßen, seine Arbeit richtig ausführte. Pepe trank gerne über den Durst, ließ seinen Hund überall sein Geschäft verrichten und war morgens zu nichts zu gebrauchen. Dennoch arbeitete er sorgfältig. Man ließ ihn gewähren. So gab es keinen Ärger und er stand unter ihrer Kontrolle. Er war als spanischer Gastarbeiter in jungen Jahren nach Saint-Loup gekommen, um bei der Ernte zu helfen und geblieben. Keiner wusste, warum. Am wenigsten Pepe selbst. Er blieb – und wurde irgendwann von der Dorfgemeinschaft adoptiert. Dass er sich anpasste, hatte nicht zuletzt mit Tata Charlotte zu tun, die immer ein gutes Wort für ihn einlegte, wenn er mal wieder des Nachts laut tobend durch die Straße gezogen war und über alles, schimpfte, insbesondere über Politik. Pepe randalierte abends zuweilen in der Brasserie, wenn er sein Temperament nicht zügeln konnte. Die Zugeständnisse, die sie für ihn machte, waren eine gute Investition: Er fraß ihr aus der Hand. Nicht freiwillig, aber er tat es, was für sie nützlich war.
Charlotte hatte sich ihre Maske im Laufe der Jahre so passend gemacht, dass sie gar nicht mehr merkte, wann sie die Gesichtsmaske trug. Zunehmend zog Charlotte sie abends nicht mehr aus. Irgendwann blieb sie kleben, wie eine zweite Haut. Eine Camouflage, ihr eigenes Gesicht eine Erinnerung, mehr nicht.
Pepe war es, der Tata Charlotte fand: Nachdem er sie nicht im Büro antraf, wurde er unruhig. Sie war in den 43 Jahren als Sekretärin des Gemeindepräsidenten nur ein einziges Mal zu spät gekommen – als sie die Nacht am Bett ihrer kranken Mutter verbrachte. Am nächsten Morgen verschlief sie. Und diese Tatsache war ihr ungemein peinlich. Denn man erzählte sich, dass sie vielleicht einen Liebhaber habe und deswegen morgens nicht pünktlich erschien. Mit ihrem Privatleben ging sie zurückhaltend um. Man sagte, dass sie keines habe. Was aber nicht ganz der Wahrheit entsprach, wie sich post mortem herausstellen würde.
Der Gemeindepräsident selbst rief Pepe zu sich und bat ihn, doch mal bei Tata Charlotte vorbei zu schauen. Sie sei nicht zur Arbeit erschienen und abgemeldet habe sie sich auch nicht. Pepe war ausnahmsweise wach, und nüchtern, ein Umstand, der seinem Auftrag entgegenkam. Er zog sich die Arbeitshosen an und radelte mit seinem rostigen Rad quer durchs Dorf, begleitet von Manolo, seinem bellenden Mischlingshund. Er war nach einem spanischen Stierkämpfer benannt worden. Eigentlich hieß er Manolete, Manuel Rodrigez Sanchez. Aber dieser Name war zu lang. Also hieß er Manolo.
Der Hund hörte nicht auf seinen Namen, aber das störte Pepe nicht.
Er klingelte an der Haustüre von Tata Charlotte, im zweiten Stock des alten Holzhauses. Als sie nach mehrmaligem Klingeln und anschließendem Klopfen an der Türe nicht reagierte, drückte er die Klinke herunter. Sie öffnete sich, was nicht dem Sicherheitsdenken der älteren Dame entsprach. Sie schloss den Eingang immer ab und zog abends die Fensterläden zu, verriegelte sich gewissenhaft. Obwohl sie allen erzählte, dass Saint-Loup der sicherste Ort der Welt sei, wollte sie offenbar auf Nummer sicher gehen.
Das Haus befand sich am Ende der Straße. Dahinter war nur Acker. Am Horizont sah man, je nach Wetter, die Bergkette der Haute Savoie. Meistens trugen die Bergspitzen eine Haube aus Schnee, in den drei Sommermonaten waren sie frei davon. Als Pepe die Türe anschob, gab sie nach und schwang auf. Er rief Charlottes Namen, zuerst schüchtern, dann lauter. Es war ihm unangenehm, sich in ihrer Wohnung aufzuhalten, während sie womöglich einkaufen war. Am allerschlimmsten erschien ihm Gedanke, sie in ihrem Nachthemd im Bett anzutreffen.
Die Wohnung roch nach Schmierseife und etwas säuerlich nach Äpfeln. Das würde er später zu Protokoll geben, auf die Frage des Kommissars, ob er etwas Besonderes wahrgenommen habe beim Eintreten. Wie erwartet erschien alles sauber: Pepe zog sich die Schuhe aus und ging auf Socken in das Wohnzimmer, noch immer laut rufend. Auch, um seine eigene Unsicherheit zu verbergen. Eine rustikale Polstergarnitur, braun, ein alter Fernsehen und ein Tisch aus robustem Holz. In der Ecke hing ein Vogelkäfig: Der grüne Wellensittich hüpfte aufgeregt von einer Stange zur anderen. Hoch und runter. Eine weiße Blumenvase auf dem Tisch, darin Rosen oder so. Er kannte sich mit Blumen nicht aus. Pepe ging in die Küche, die, wie alles in der Wohnung, penibel aufgeräumt war. Auf dem roten Resopaltisch lag ein Apfelkuchen in seiner Backform zum Auskühlen. Über dem Stuhl hing ein kariertes Küchentuch. Sorgfältig zusammengelegt.
Er seufzte. Sie war nicht da. Ende und fertig. Pepe wollte heraus aus der Wohnung, hinunter zu Manolo und zurück in seine eigenen vier Wände. Jetzt brauchte er ein Bier und vielleicht noch eine Stunde Schlaf. Später würde er die Blumen auf dem Friedhof gießen müssen. Das gab so viel zu schleppen, weil der Gemeinderat ihm nicht erlaubte, die Gräber mit dem Gartenschlauch zu wässern, was doch wesentlich praktischer gewesen wäre. So blieb ihm nichts anderes übrig, als jeweils mit zwei der vier verfügbaren Gießkannen hin und her zu marschieren. Es würde ein heißer Tag werden, da war er sicher. Ein letzter Blick ins Schlafzimmer, wie unangenehm, ins Bad und er hatte seinen Auftrag erfüllt: Tata Charlotte blieb unauffindbar.
Weiß der Himmel, wo sie sich aufhielt, hier war sie jedenfalls nicht.
Der Vogel im Wohnzimmer fing an zu zwitschern. Laut und krächzend. Pepe sah, dass sein Futternapf leer war und er kein Wasser mehr hatte. Mit einem Seufzen schob er die Käfigtüre auf, griff nach dem Plastikschüsselchen, als er die bestrumpften Beine von Tata Charlotte auf dem Boden neben dem Sofa hervorragen sah.
Kapitel 5
Julie saß am antiquarisch erworbenen Schreibtisch im Buchladen. Die Oberfläche wies Risse und Unebenheiten auf. Die unzähligen Tassen Tee, die auf ihm abgestellt wurden in den letzten Jahren, hatten Abdrücke hinterlassen. Sie zeichneten ein eigenes Muster, wie eine Landkarte. Von der Decke baumelte eine nackte Glühbirne in ihrer Fassung. Das Licht reichte gerade, um den Arbeitsplatz hell genug zu machen. Ein kleiner Raum, düster. Julie hatte den Schreibtisch so gedreht, dass sie jetzt, wenn sie an ihm saß, den Laden überblicken konnte. Den grauen, fadenscheinigen Vorhang, der das fensterlose Büro vom vorderen Teil des Ladens trennte, hatte sie entfernt. Sie gab eine Bestellung in den Computer ein. Im Geschäft wartete niemand. Falls ein Kunde käme, wäre sie rasch zur Stelle. Die Regale mit den Büchern reichten bis zur Decke, das oberste Regal ließ sie frei, da es nur mühsam mit einer Leiter zu erreichen war. Als sie den Laden übernahm, waren die Bücher nicht sortiert: Ein Dürrenmatt stand in absurder und doch friedlicher Nachbarschaft zu Astrid Lindgren. Georges Simenons Kommissar Maigret paffte seine Pfeife gemütlich neben Hemingways Novelle Der alte Mann und das Meer. Zwei kauzige Männer: Während der eine auf seine Weise bedächtig Mörder jagte, rang der andere in seinem Boot mit einem Fisch. Karl May, der sich seltsamerweise noch immer verkaufen ließ, neben einem Rezeptbuch für Kompotte und Konfitüren. Die satanischen Verse von Salman Rushdie schliefen in liebevoller Harmonie neben einem Bildband über die Geschichte des Fußballs in Frankreich. Atlanten türmten sich mannshoch neben dem Eingang. Julie fürchtete den Tag, an dem ein paar übermütige Kinder in den Laden kämen und dabei den Berg umwürfen.
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