Alle wussten davon und wollten alles darüber wissen. Sie war, zum ersten Mal in ihrem Leben der bewunderte Mittelpunkt der kleinen Schule: das begehrte Objekt, Trägerin eines Geheimnisses, über das alle aus erster Hand Informationen beziehen wollten. War die Haut der Geisterfrau wirklich so durchsichtig wie die Fensterscheibe, vor der sie stand? Stimmte es, dass ihre Hand die Klaue eines Löwen nachzeichnete und sie Selbst oben Mensch und unten Monster? War ihre Stimme so tief wie die eines Mannes und tropfte Kinderblut von ihren Mundwinkeln herunter? Julie gab Antwort, zurückhaltend und schüchtern. Sie war diese Aufmerksamkeit nicht gewohnt. Als die Schulglocke das Ende der Pause ankündigte, stoben alle die Treppe hinauf und rannten in ihre Schul1zimmer. Sie war erleichtert.
Nachts schlief sie noch immer schlecht und tagsüber konnte sie sich in der Schule nicht konzentrieren, nur deswegen. Außerdem konnte sie mit keiner blutrünstigen Geschichte die gierigen Ohren ihrer Mitschüler stopfen. Also verlor sie bald die Aufmerksamkeit der anderen. Sie stand wieder mit ihren Freundinnen herum und kaute ihren Apfel. Gelegentlich wurde sie ausgelacht, weil es hieß, sie habe kein Gespenst gesehen, sondern diese Geschichte erfunden, um sich wichtig zu machen. Sie ließen gruselige Geräusche ab, wenn Julie an ihnen vorbei ins Schulhaus lief.
Aber auch das war irgendwann zu Ende, in etwa um die Zeit, als die Familie in der Villa Pommier einzog. Das war jetzt fesselnder. Vor allem, als der Lehrer an einem der nächsten Montage Yves als neuen Mitschüler vorstellte. Er sei erst zugezogen und wohne in der Villa Pommier.
Yves hatte rote Haare, die an der Sonne wie eine Clementine leuchteten, er war genauso schüchtern wie sie und wurde ihr bester Freund.
Das Gespenst tauchte nie mehr auf. Ein bisschen so, als hätten Yves und sie den Kampf gewonnen.
Gegen wen auch immer.
Kapitel 3
Es war spät geworden. Hatte sie so lange im Buchladen für die paar Pakete gebraucht? Manchmal kam es ihr so vor, als fiele sie in Zeitlöcher, die sie dort festhielten. Wenn sie endlich herauskletterte, war viel mehr Zeit vergangen als geglaubt. Die Glocke schlug elf Mal. Das konnte nicht sein. Sie log, wie so oft.
Die Katze weckte sie am nächsten Morgen. Julie hatte die Türe ausnahmsweise offengelassen und der Katze somit ungewollt Zugang zu ihrem Schlafzimmer ermöglicht. Beharrlich trommelte sie mit ihren Vorderpfoten auf Julies Brust. Milchtritt, hatte sie mal gelesen. Das tun Katzen, wenn sie sich ausgesprochen wohlfühlen. Oder, wenn sie als junges Kätzchen beim Saugen die Milch kräftiger in Fluss bringen wollten. Dabei schnurrte sie laut, brummend und entschlossen, Julie aus dem Bett zu treiben. Da die Vorhänge geöffnet waren, konnte sie die Sonne sehen, die zögernd über den Hügel brach, dessen Namen sie schon in der Schule immer wieder vergessen hatte. Gemächlich schoben sich die Sonnenstrahlen über ihre Decke. Eine Wanderung, die sich über eine Stunde hinziehen würde. So lange wollte sie nicht warten: Julie hob die dicke Katze hoch und stellte sie auf den Boden. Sie öffnete das Fenster, stellte ihre Hände auf das Fensterbrett ab und hob ihr Gesicht zur Sonne.
So sah sie der Tonton, der alte Postbote, als der mit seinem Rad um die Ecke fuhr: eine dunkelhaarige Frau Mitte dreißig, deren Brüste zu sehen waren und die ihr Gesicht lächelnd gegen den Himmel reckte. Er bedauerte, dass ihr Fenster nur bis knapp oberhalb des Bauchnabels reichte und noch mehr bedauerte er, dass Julie ihn entdeckte hatte. Sie drehte sich um und verschwand im Inneren ihres Hauses. Er stieg von seinem Rad, erinnerte sich dabei an Julies Mutter, die in dem Haus gewohnt hatte, bis sie nach Lyon zog. Ihre Tochter Julie war vor vier Jahren zurückgekommen, nachdem sie jahrelang keinen Fuß mehr in das Dorf gesetzt hatte. Weiss der Teufel warum! Julie sprach nicht darüber, mit niemandem und wich den Fragen hierzu geschickt aus. Sie habe in der Schweiz studiert, hatte einen gut bezahlten Job. So eine wie sie habe es nicht nötig, hier in Saint-Loup zu versauern. Sagte man. Diese Meinung teilte er: Heiraten soll sie, Kinder haben oder an ihrer Karriere basteln. Hier in dem Dorf blieb ihr nur eine zu werden wie Tata Charlotte: eine verbitterte Jungfrau, die allerorts ihre wunderfitzige Nase hineinsteckte und immer das letzte Wort hatte. Er stellte sein Rad an den Gartenzaun, der einen Anstrich gebrauchen könnte. Ein Mann im Haus fehlte, da waren sich alle einig. Einer, der das Haus auf Vordermann brachte, der Ordnung in ihr Leben blies. Ihr Vater war tot, der hätte alles repariert. Tonton schüttelte den Kopf, als er sah, dass ihr Namensschild, ein mit Kleber hingepappter Notizzettel mit ihrem Namen, abgefallen war und am Boden lag. Bereits ein halbes Dutzend Mal hatte er Julie gesagt, dass sie sich bei Claude im Dorf ein schönes Schild machen lassen konnte für ein paar Euro. Statt des Papierstreifens. Sie hatte abgewinkt, mit ihrem Lächeln, das ihn jedes Mal wieder an ihre schöne Mutter erinnerte. Ja, er hatte sie geliebt. Mehr als einmal hatte er seinen Mut zusammengenommen und sie auf dem Weg ins Dorf oder zur Kirche abgepasst, um ihr hastig und stotternd seine Liebe zu gestehen. Natürlich hatte sie gelächelt, als er vor ihr stand, die Hände in den Hosentaschen. Die Haare streng nach hinten gekämmt, wie es damals Mode war. Die ganze Nacht hatte er kaum geschlafen, weil er seine Worte immer wieder prüfte. Nichts schien richtig genug, aber es musste gesagt werden. Also stellte er sich hin und stotterte.
»Ich … ich … wowowowo … ltte dir nur sasa … sagen … dass du wuwunderschön bist … ichich … llllliiebe dich.«
Ihr Lächeln hätte überheblich sein können. Arrogant oder herablassend. Das war es nicht. Sie lächelte, als hätte sie ein nettes Geschenk bekommen. Pralinen oder Blumen. Claudine bedankte sich höflich, nahm es als ein Kompliment und ging ihres Weges. Nicht ohne ihm vorher einen schönen Tag zu wünschen. Er schrieb ihr Briefe. Schwülstige Worte, die er aus alten Büchern kopierte, gemischt mit sehnsüchtigen Versprechen. Sie antwortete nie. Was ihn noch mehr anstachelte. Da er die Liebe zu ihr geheim halten wollte, schickte er die Briefe nicht mit der Post, sondern steckte sie abends in den Briefkasten. Jener Briefkasten, in den er jetzt einen kleinen Stapel Werbeprospekte schob.
Sie heiratete Antoine. Das kam für alle überraschend. Antoine war weder besonders schön, noch reich. Er war in nichts herausragend.
Ein stiller Mann, der unscheinbar durch die Schulzeit gegangen war.
»Antoine? Bist du nicht mit ihm zur Schule gegangen?«
»Nein, ich glaube nicht.«
»Doch. Ganz bestimmt. Er trug doch im Winter immer diese grüne Jacke, so ein hässliches Ding.«
»Ach? Das war Antoine?«
Ausgerechnet Antoine bekam die schöne Claudine. Wie er das erreicht hatte, war ihm ein Rätsel. Er arbeitete hart, war ein guter Vater und ein besonders guter Belot-Spieler. Er gewann meistens. Ihre Wahl schien eine gute gewesen zu sein, obwohl er dies bedauerte und zeitlebens warme Gefühle für sie hegte, tat er dies nur noch heimlich. Er stotterte nicht mehr. Ausnahmsweise dann, wenn er Claudine ein Paket abliefern musste, kam es vor, dass er an bestimmten Wörtern hängen blieb. Oder sich bei ihrem Anblick so verlor, dass er ihr wortlos das Paket übergab und winkend auf sein Fahrrad stieg und davonfuhr. Damals war der Briefkasten noch ordentlich beschriftet, der Zaun in tadellosem Zustand, der Garten gepflegt und das Haus sorgsam in Schuss gehalten. Jetzt blätterte der Verputz, die Fenster hatten die Doppelverglasung von früher, sie hätten längst modernisiert werden müssen. Neben der Türe stand ein Korb mit leeren Flaschen, den Julie vergessen hatte. Der Postbote schüttelte den Kopf. Es war halt nichts mehr so wie früher: Traditionelle Werte verloren ihren Reiz. Jeder war sich selbst am Nächsten und schaute für sich. Man reiste in der Welt herum, kannte aber die Namen der Nachbardörfer nicht mehr. Einkaufen konnte man im Internet, Briefe schreiben auch. Er hatte gelesen, dass man inzwischen nicht mal mehr zum Arzt musste, wenn man krank war: Es reichte, wenn man mit diesen neuen Handys ein Foto von sich schoss und es als SMS schickte. Umgehend kam die Diagnose, zusammen mit dem verordneten Rezept, das man in der Apotheke einlösen konnte. Die Steuererklärung, sagte ihm Charlotte, musste man nicht mehr auf Bögen ausfüllen, auch das ging jetzt über das Internet. Gerade sie, die nie etwas auf dem Computer machte. Alles ging so schnell. Hier im Dorf kannte man sich, man wusste, wer krank war und half sich gegenseitig aus. Das war einfach, fand er, bei 770 Einwohnern. Er kannte jeden hier, füllte täglich die Briefkästen. Und er musste zugeben, dass der von Julie noch immer einen ganz besonderen Reiz auf ihn ausübte. Ihn, den alten Tonton, der kurz vor seiner Pensionierung stand und der plötzlich wieder fünfzehn war, als er die Brüste von Julie am Fenster sah. Zugegeben, für ihn war es Claudine, die da oben stand und sie lächelte nur für ihn. Antoine hatte es nie gegeben, er war nie geboren worden. Da war nur Tonton. Claudine und Tonton. So wie er es heimlich in die Rinde der großen Tanne beim Schulhaus ritzte. Mit dem Rüstmesser aus der Küche. T&C. Darunter ein großes Herz.
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