Einer der letzten Mieter hatte den Dachstock ausgebaut; er maß 150 Quadratmeter. In der Ecke stand ein Ledersofa, daneben eine sehr teuer aussehende Lampe. Neben das Fenster hatte jemand ein Plakat von Christian Dior an die Wand gepinnt. Ein Klavier stand mitten im Raum: Verkaufsfördernd so platziert, dass es den Anschein hatte, als würde ein Klavierspieler hier ein Konzert für einen einzigen Gast geben, der auf dem Sofa lag. Die Werbung von Dior implizierte, dass sich dort eine wunderschöne Frau rekelte.
Julie klickte sich online weiter durch die Fotos vom jetzt gepflegten Garten. Des neu gestrichenen Gärtnerhauses, Ockergelb, während das Haus in pastelligem Rosa den Eindruck einer romantischen Zuckertorte vermittelte, die mit Marzipan überzogen war. Julie schauderte ob so viel des Kitsches. Nicht nur die Eiche war gefällt worden, sondern der größte Teil des alten Baumbestandes hatte einem gepflegten Rasen Platz gemacht. Akkurat und genauso tot wie gradlinig wuchs hier Gras, das keiner Blüte eine Chance gab. Die Brombeerranken waren längst geschnitten worden. Die Tanne allerdings, unter der sich ihr, Julies, kleiner Garten befand, stand noch. Sie hatte etwas gelitten, die unteren Äste waren gekappt worden, aber sie hatte die Arbeitswut des Gärtners überlebt. Julie freute sich darüber, holte sich die Weinflasche aus der Küche. Füllte ihr Glas zur Hälfte und klickte sich nochmals vorbei am Fumier, dem Billardzimmer und dem Gang zum Schlafzimmer der Eltern. Die Aufnahmetechnik erlaubte es ihr, verschiedene Blickwinkel des Zimmers heranzuzoomen: Nahe an die Wand heran, von oben herunter wie eine Stubenfliege, nahe an das Fenster, als wäre sie der Geist, der ihr als Kind Angst einflößte. Als stünde sie am Fenster und blickte herunter auf das verängstigte Mädchen, das vor Angst zitternde Knie bekam, bevor es wegrannte. Aus diesem Winkel konnte sie die Zufahrt aus Kies überblicken. Die Bäume, welche die Einfahrt säumten und die kleine Steinmauer, auf der unlängst die Männer des Dorfs gesessen hatten in Erwartung einer Peepshow, die niemals stattfand.
Julie biss in das letzte Stück Käse, wischte die Finger an den Jeans ab und knipste die Deckenlampe an. Sie fror in ihrem Shirt, das sie sich hastig übergezogen hatte, bevor sie Edouard die Treppe nach unten gefolgt war, um ihm Adieu zu sagen. Jetzt war sie zu faul, um sich eine Strickjacke zu holen, die entweder im Garten oder oben im Schlafzimmer hing.
Der Blickwinkel auf dem Computer entsprach noch immer dem Blick, den die Frau nach unten vor das Haus hatte. Ohne Möbel wirkte das Zimmer steril. Es ließ keine Melancholie zu, keine Ängste eines Mädchens, das auch als erwachsene Frau gewisse Vorkommnisse noch immer nicht erklären konnte. Das Foto entsprach nicht den schwarz-weiß grobkörnigen Fotos, die man im Internet fand, wenn man das Suchwort Geister eingab. Da war kein mysteriöser Schatten, der an der Tapete klebte. Da war kein sich spiegelndes Gesicht im geputzten Fenster. Nicht mal die Vorhänge blähten sich romantisch im Wind. Es war ein normales Zimmer und präsentierte sich adrett dem zahlungsfähigen Kunden, der auf die Seite der Maklerfirma klickte.
Julie wusste nicht, was sie erwartet hatte. Mit Bestimmtheit nicht die emotionslose Gelassenheit, mit der sie anschließend ihre Mailbox prüfte, ein drittes Glas Wein einschenkte und ein paar Mails beantwortete. Bevor sie die Katze ins Haus rief, ihr Futter hinstellte und nach oben ins Bett ging. Sie glaubte, eine Distanz zur Villa Pommier hergestellt zu haben, keine Unruhe beim Betrachten der Bilder, nichts. Als hätte sie die Zimmer eines Hauses angeschaut, zu dem sie keinen Bezug hatte. Eine Fremde in einem fremden Raum, mehr nicht.
Als sie sich auszog, die Kleider auf dem Stuhl in der Ecke warf und nackt unter die Baumwolldecke warf, dröhnte ihr Kopf von der ungewohnten Menge Weins. Das Bett schaukelte ein bisschen, wie ein Schiff in einem leichten Sturm. Sie hatte ihr Handy unten im Garten vergessen und konnte den Wecker für den kommenden Tag nicht einstellen. Julie würde verschlafen. Vielleicht aber auch nicht. Sie ließ es darauf ankommen und glitt in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
Kapitel 2
Sommer 1990.
Damals. Als noch so vieles keinen Sinn ergab. Weil alle Fäden erst verknüpft werden mussten, damit man ein Muster sehen konnte. In einem Buch hatte Julie gelesen, dass man die Rückseite eines Teppichs betrachten soll, um zu verstehen, wie er gewebt worden ist. Will man der süßen Idylle glauben schenken, soll man eben diesen Blick sein lassen und sich nur die Vorderseite ansehen. Julie liebte es schon immer, den Dingen auf den Grund zu gehen. Auch wenn sie hierzu Teppiche wenden und die Mauer zum Anwesen überklettern muss. Dass sie sich dabei Schrammen holte, war ein Zoll, den sie gerne bezahlte. Was war ein Riss in einem Knie gegen die Gewissheit, hinter einer Mauer ein vermutetes Paradies zu sehen? Natürlich hätte sie den beschaulichen Weg gehen können, der direkt zur Einfahrt aus Kies führte. Die beiden Tore standen offen. Das wäre jedoch nicht halb so spannend gewesen wie die abenteuerliche Kletterei.
Das Haus war zweistöckig, im Stil von Louis XIII. erbaut. An der Vorderseite befanden sich fünf Fenster. Links und rechts vom Eingang standen zwei Säulen. Hier hatte jemand versucht, etwas römisches Flair in den Charakter der Villa zu bringen. Die Fenster waren alle mit weißen Vorhängen versehen, die das Tageslicht aussperrten. Julie fand, das Gebäude machte so den Eindruck, als wäre es blind. Der Anblick geschlossener Augenlider. An diesem Abend wollte sie heim und zu diesem Zweck um das Haus herum zur Rückseite gehen. Dort führte eine Abkürzung über die brachliegende Wiese nach Hause. Außerdem konnte sie so sicher sein, dass niemand sie sehen würde. Als Julie die Bewegung am oberen Fenster wahrnahm, glaubte sie an eine Täuschung: ein Schatten vielleicht? Sie hielt inne. Kaute unschlüssig an ihrer Unterlippe. Der Vorhang war auf die Seite gezogen. War das schon immer so gewesen? Alle Vorhänge bündig zugezogen bis auf eines?
Als sie weiterlief und einen letzten, beunruhigten Blick zur Fassade im Licht der untergehenden Sonne warf, konnte sie die Silhouette einer menschlichen Gestalt erkennen. Eine Frau!
Das würde sie später erzählen. Eine Frau mit Haaren, die wie ein auf dem Kopf aufgetürmtes Vogelnest aussahen. Sie stand da mit einem weißen Kleid. Vielleicht so wie das Nachthemd aus heller Baumwolle, dass Oma manchmal trug. Die Frau mit dem Vogelnest auf dem Kopf blickte zu Julie herunter. Starr wie eine Statue stand sie da, die Hüterin des Hauses. Ein weißes Gespenst.
Sie verließ das Grundstück und rannte die Straße hinauf, bis ihre Lungen brannten und sie keine Luft mehr bekam. Beim Bäcker blieb sie stehen, stemmte die Arme in die Seite und bückte sich nach vorne. Ihr war schlecht. Die Frau des Bäckers, die sie kommen sah, war im Begriff, die Kreidetafel mit den Angeboten des Tages in den Laden zu tragen, um das Geschäft zu schließen. »Julie? Was ist denn mit dir los? Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.«
Sie streckte ihre Hand aus, um ihr zur Beruhigung die Hand auf den Kopf zu legen. Julie schnappte nach Luft und rannte weiter. Vorbei an den Männern, die vor der Brasserie standen und sich voneinander verabschiedeten. Die ihren abendlichen Wein getrunken hatten und nun heim strebten. Sie grüßte nicht. Rannte. Spürte einen Stein schmerzhaft in ihren Schuhen und den salzigen Geschmack von Tränen im Mund. Hetzte am Gemeindehaus vorbei, nahm die Kurve dort so knapp, dass sie beinahe mit Madame Kassovitz zusammengestoßen wäre, die schwer atmend eine Einkaufstasche vor sich auf den Boden stellte. Lief vorbei an den Vorgärten. Nach der Kirche links und noch ein paar Meter – sie war gerettet. Sie riss die Eingangstüre auf, ließ sie laut ins Schloss fallen. Die Mutter hielt einen Kochlöffel in der Hand und den missmutigen Ausdruck einer Frau im Gesicht, deren Tochter sich nicht an die Regeln des Hauses hielt. Julie warf sich an ihre Mutter, umschlang sie mit den Armen, schluchzte in den warmen, tröstenden Bauch. Er roch nach gebratenen Zwiebeln und dem honigwarmen Duft von Geborgenheit.
Читать дальше