Karin Firlus - Die Muschel von Sant Josep

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Das Leben spielt mit Marlene Roulette. Die aufkeimende Liebe zwischen ihr und Victor scheint keine Zukunft zu haben. In ihrem emotionalen Tief lernt sie Jan kennen, der ihr alles bietet, was sie sich von einem Mann erhofft. Doch zwei furchtbare Schicksalsschläge stellen ihre Beziehung auf eine harte Probe. Zu alledem erfährt Marlene zufälligerweise von einem Mord, der sie tief erschüttert. Welche Rolle spielt dabei ein geheimnisvoller Fremder?

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Copyright: © Karin Firlus / November 2020

Verlag: epubli GmbH, Berlin / www.epubli.de

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung der Autorin reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Cover und Umschlaggestaltung sind urheberrechtlich geschützt. Die Benutzung dieser Bilder ist nur mit schriftlicher Erlaubnis von Dr. Maria Winter gestattet, bei der alle Rechte liegen.

Cover und Umschlaggestaltung: www.winter-design.eu

Karin Firlus

DIE MUSCHEL VON SANT JOSEP

PROLOG

Speyer, im Mai

Sie hatten bereits zwei Viertel Riesling intus, als Silvia Marlene leicht in die Rippen stieß. „Schau mal da vorne: Madame Soraya – Lassen Sie sich Ihre Zukunft aus der Hand lesen!“

Marlene sah zu dem dunkelblauen Zelt weiter vorne, das sich in seiner Schlichtheit von den grellbunten, marktschreierischen Buden der Kirmes abhob. „Glaubst du etwa an so etwas?“

Ihre Studienkollegin zuckte mit den Schultern. „Irgendwie würde es mich schon reizen.“

Sie gingen ein Stück weiter. Am Süßwarenstand gegenüber dem blauen Zelt kauften sie sich spontan Mohrenköpfe. Marlene biss genüsslich in die weiche Eischneemasse mit Schokolade und Kokosraspeln. Sie stöhnte wohlig.

Als sie sich umdrehte, stand vor dem blauen Zelt eine zierliche Frau mittleren Alters: schwarze, kurze Haare, schwarze Leinenhose mit lässiger weißer Bluse. Von ihren Ohren baumelten große, goldene Kreolen. Sie sah Marlene direkt in die Augen, dann nickte sie. „Bitte kommen Sie!“ Mit einer einladenden Handbewegung schob sie den Vorhang aus blauen und silbernen Glitzerteilchen zur Seite.

Marlene starrte sie verblüfft an. „Meinen Sie mich?“

Die Frau nickte. „Treten Sie ein.“

Marlene tat einen Schritt auf sie zu, dann sah sie verunsichert zu Silvia.

Sie zuckte mit den Schultern. „Na los, vielleicht wird’s ja ganz lustig.“

Marlene stopfte den Rest ihres Mohrenkopfes in den Mund. Wie hypnotisiert bewegte sie sich auf den Zelteingang zu und schritt hindurch. Sylvia folgte ihr dicht auf den Fersen. Die Frau beachtete sie nicht, sie sah unverwandt Marlene an.

Drinnen war es überraschend angenehm; etwas kühler als draußen, ein leichtes Aroma von Räucherstäbchen wehte ihr um die Nase. War das Rosenduft? Von irgendwoher tönten sanfte Mandolinenklänge durch den abgedunkelten Raum. In der Mitte stand ein einfacher Holztisch mit Stühlen, eine hohe, türkisfarbene Kerze verströmte schwaches Licht.

Die Frau bot ihren Besucherinnen die beiden Stühle vor dem Tisch an, sie setzte sich auf den Schemel dahinter und musterte wieder Marlene. „Geben Sie mir Ihre linke Hand, bitte.“

Sie streckte sie aus und leckte automatisch die aufgeweichte Schokolade von ihrer rechten Handinnenfläche, in der sie den Mohrenkopf gehalten hatte. Verschämt wischte sie dann die Hand an ihrer Jeans ab.

„Sie hatten eine behütete Kindheit und bisher hat das Leben Ihnen noch keine Prüfungen auferlegt.“

‚Stimmt‘, dachte Marlene, aber einer jungen Frau so etwas zu erzählen und damit recht zu behalten, barg eine Trefferquote von etwa neunzig Prozent.

„In letzter Zeit hatten Sie viel Arbeit und manchen Ärger … eine Belastungsprobe steht kurz bevor und der bisherige Lebensabschnitt geht zu Ende.“

Die beiden Frauen sahen sich verwundert an; Marlene würde in drei Tagen ihr zweites Staatsexamen ablegen.

Die Frau schob die Kerze etwas näher heran und kniff die Augen zusammen. „Es steht eine komplette Veränderung in Ihrem Leben an.“

Klar, nach einer Prüfung begann man meist zu arbeiten, dadurch änderte sich das Leben. Noch während sie überlegte, dass es Schwachsinn war, der Frau weiter zuzuhören, ließ sich deren sonore Stimme wieder vernehmen.

„Sie erleben zwei große Enttäuschungen, die sich aber letztendlich als Glücksfall für Sie erweisen werden.“

Marlene sah feixend zu Silvia, die mit ernstem Gesicht dasaß und die Frau musterte.

„Ich sehe drei Männer, einen verschwommen.“ Sie stutzte und ihr Blick umwölkte sich. „Da sind Tod und Trauer. Sie werden stark sein müssen.

…Aber ich sehe auch Liebe, eine große Liebe. Werfen Sie sie nicht achtlos weg … und haben Sie Vertrauen!“ Damit sah sie ernst auf und gab Marlenes Hand frei.

Sie hatte den Worten mit angehaltenem Atem gelauscht, jetzt stieß sie die Luft aus. „Das alles wollen Sie in meiner Hand gesehen haben? Das ist ja lächerlich!“ Mit hochrotem Kopf sprang sie auf. „Was bin ich Ihnen schuldig?“

Die Frau bedachte sie mit einem unergründlichen Blick. „Es steht Ihnen frei, etwas zu geben oder nicht.“

Marlene zog ihren Geldbeutel aus der Gesäßtasche ihrer Jeans, griff hinein und warf einen Zwanziger auf den Tisch. „Das dürfte ja wohl reichen!“ Mit zusammengekniffenen Lippen drehte sie sich um und eilte aus dem Zelt. Das Gebimmel des Glasperlenvorhangs klang hohl in ihren Ohren. Sie lief ein paar Schritte, dann blieb sie stehen.

Silvia kam hinter ihr hergerannt. „Warum bist du denn so plötzlich abgehauen? Sie hätte mir doch auch noch aus der Hand lesen können!“

Marlenes braune Augen blitzten sie wütend an. „Bitte, wenn du Lust auf solch einen Mist hast, dann geh doch rein und lass dir was vorfaseln!“ Sie war völlig außer Atem, ihr Herz raste und sie schwitzte. Sie schluckte krampfhaft. Tod, Trauer, die große Liebe – was dachte sich diese Frau nur dabei, so etwas von sich zu geben?

Das Donnergrollen, das immer näherkam, trieb sie vorwärts. Mit großen Schritten strebte sie der Treppe zu, die vom Messplatz, wo die Kirmes stattfand, nach oben zur Straße führte. Weiter vorne ragte der Speyerer Dom hinter mächtigen Bäumen majestätisch in den nachtblauen Himmel, an dem sich bedrohlich wirkende Wolken türmten.

„Jetzt renn doch nicht so, verdammt!“ Silvia keuchte hinter ihr her. „Was ist denn plötzlich los mit dir? Du hast das doch nicht etwa geglaubt, oder?“

Abrupt blieb Marlene stehen. „Diesen Müll? Ich bin doch nicht bekloppt! Aber ich finde es unverantwortlich, wildfremden Leuten etwas von Tod und Trauer zu erzählen. Es gibt nämlich bestimmt irgendwelche Sensibelchen, die an diesen Unsinn glauben.“ Sie stapfte die Treppe hoch.

„Wohin willst du denn? Doch nicht etwa schon nach Hause? Es ist erst halb zwölf!“

„Das ist mir egal, mir ist die Lust am Spaß vergangen!“ Im Laufschritt überquerte sie die Straße und blieb neben der Bushaltestelle stehen. Ein Blick zur Uhr sagte ihr, dass der letzte Shuttlebus gleich kommen müsste.

„Spaßbremse!“, murmelte Silvia.

Obwohl sie sich dagegen wehrte, war Marlene während der letzten Minuten im Geiste die Menschen durchgehechelt, die ihr etwas bedeuteten: ihre Eltern, ihre Schwester, ihr Freund Tom. Sie wollte nicht, dass einem von ihnen etwas zustieß. Seltsam, die Frau hatte Silvia überhaupt nicht beachtet. Wieso dachte sie überhaupt über das Ganze nach?

Silvia schüttelte den Kopf. „Aber irgendwie war es schon eigenartig, was die Frau sagte. Sie kann zum Beispiel nichts von deiner Prüfung am Montag wissen, aber sie klang so, als sei sie von dem überzeugt, was sie sagte.“

„Das ist alles einstudiertes Gehabe!“, widersprach Marlene, während sich ein ungutes Gefühl in ihrem Magen ausbreitete und eine innere Stimme flüsterte: „Und wenn es doch stimmt?“

Der erste Blitz zuckte über den Messplatz, als der Bus vor ihnen hielt. Unwillkürlich musste sie auf der Heimfahrt an eine Bekannte ihrer Mutter denken, die der Esoterik sehr zugetan war, an Reinkarnation glaubte und sogar schon ein Rückführungserlebnis hatte. Angeblich war sie im Mittelalter als Hexe auf einem Scheiterhaufen verbrannt worden. Allerdings ließ sich dies an keinerlei Dokumenten nachweisen.

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