Joseph Roth
Die Geschichte von der 1002. Nacht
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Im Frühling des Jahres 18 . . begann der Schah-in-Schah, der heilige, erhabene und große Monarch, der unumschränkte Herrscher und Kaiser aller Staaten von Persien, ein Unbehagen zu fühlen, wie er es noch niemals gekannt hatte.
Die berühmtesten Ärzte seines Reichs konnten seine Krankheit nicht erklären. Der Schah-in-Schah war aufs höchste beunruhigt. In einer schlaflosen Nacht ließ er den Obereunuchen Patominos kommen, der ein Weiser war und der die Welt kannte, obwohl er den Hof nie verlassen hatte. Zu diesem sprach er so:
»Ich bin krank, Freund Patominos. Ich fürchte, ich bin sehr krank. Der Arzt sagt, ich sei gesund, aber ich glaube ihm nicht. Glaubst du ihm, Patominos?«
»Nein, ich glaube ihm auch nicht!« sagte Patominos.
»Glaubst du also auch, daß ich schwer krank bin?« fragte der Schah.
»Schwer krank – nein – das glaube ich nicht!« erwiderte Patominos.
»Aber krank! Krank jedenfalls, Herr! Es gibt, Herr, viele Krankheiten. Die Doktoren sehen sie nicht, weil sie darauf abgerichtet sind, nur die Krankheiten der körperlichen Organe zu beachten. Was aber nutzt dem Menschen ein gesunder Leib mit gesunden Organen, wenn seine Seele Sehnsucht hat?«
»Woher weißt du, daß ich Sehnsucht habe?«
»Ich erlaube mir, es zu ahnen.«
»Und wonach sehne ich mich?«
»Das ist eine Sache«, erwiderte Patominos, »über die ich eine Weile nachdenken müßte.«
Der Eunuch Patominos tat so, als dächte er nach, dann sagte er:
»Herr, Eure Sehnsucht zielt nach exotischen Ländern, nach den
Ländern Europas zum Beispiel.«
»Eine lange Reise?«
»Eine kurze Reise, Herr! Kurze Reisen bringen mehr Freude als lange. Lange Reisen machen krank.«
»Und wohin?«
»Herr«, sagte der Eunuch, »es gibt vielerlei Länder in Europa. Es hängt alles davon ab, was man eigentlich in diesen Ländern sucht.« »Und was glaubst du, daß ich suchen müßte, Patominos?«
»Herr«, sagte der Eunuch, »ein so elender Mensch wie ich weiß nicht, was ein großer Herrscher suchen könnte.«
»Patominos«, sagte der Schah, »du weißt, daß ich schon wochenlang keine Frau mehr angerührt habe.«
»Ich weiß es, Herr«, erwiderte Patominos.
»Und du glaubst, Patominos, das sei gesund?«
»Herr«, sagte der Eunuch und erhob sich dabei ein wenig aus seiner gebückten Stellung, »man muß sagen, daß Menschen meiner besonderen Art nicht viel von derlei Dingen verstehen.«
»Ihr seid zu beneiden.«
»Ja«, erwiderte der Eunuch und richtete sich zu seiner ganzen fülligen Größe auf. »Die anderen Männer bedaure ich von ganzem Herzen.«
»Warum bedauerst du uns, Patominos?« fragte der Fürst.
»Aus vielen Gründen«, antwortete der Eunuch, »besonders aber deshalb, weil die Männer dem Gesetz der Abwechslung unterworfen sind.
Es ist ein trügerisches Gesetz: denn es gibt gar keine Abwechslung.«
»Wolltest du damit gesagt haben, daß ich dieser bestimmten Abwechslung halber irgendwohin fahren sollte?«
»Ja, Herr«, sagte Patominos, »um sich zu überzeugen, daß es keine gibt.«
»Und dies allein würde mich gesund machen?«
»Nicht die Überzeugung, Herr«, sagte der Eunuch, »aber die Erlebnisse, die man braucht, um zu dieser Überzeugung zu gelangen!« »Wie kommst du zu diesen Erkenntnissen, Patominos?«
»Dadurch, daß ich verschnitten bin, Herr!« erwiderte der Eunuch und verneigte sich wieder.
Er riet dem Schah-in-Schah zu einer weiten Reise. Er schlug Wien vor. Der Herrscher erinnerte sich: »Mohammedaner waren dort schon vor vielen Jahren gewesen.«
»Herr, es gelang ihnen damals leider nicht, in die Stadt zu kommen. Auf dem Stephansturm stünde sonst heute nicht das Kreuz, sondern unser Halbmond!«
»Alte Zeiten, alte Geschichten. Wir leben in Frieden mit dem Kaiser von Österreich.«
»Jawohl, Herr!«
»Wir fahren!« befahl der Schah. »Die Minister verständigen!«
Und es geschah, wie er befohlen hatte.
Im Waggon erster Klasse zuerst, später im rückwärtigen Teil des Schiffes, herrschend über den Frauen, saß der Obereunuch Kalo Patominos. Er blickte auf die rotglühende untergehende Sonne. Er breitete den Teppich aus, warf sich auf den Boden und begann, das Abendgebet zu murmeln. Man erreichte unerkannt Konstantinopel.
Das Meer war sanft wie ein Kind. Das Schiff schwamm sacht und lieblich, es selbst ein Kind, in die blaue Nacht hinein.
Ein paar Tage kreuzte das bräutliche Schiff des Schahs im blauen Meer. Denn man getraute sich nicht, dem großen Herrn zu sagen, daß man auf eine Antwort des persischen Botschafters in Wien warten müsse. Nach anderthalb Tagen schon wurde der Schah ungeduldig. Obwohl er sich um den Kurs des Schiffes nicht kümmerte, konnte er doch nicht umhin, zu bemerken, daß immer wieder das gleiche Stück der Küste auftauchte, die er eben verlassen hatte. Auch ihm schien es allmählich sonderbar, daß ein so starkes Schiff so viel Zeit brauchte, um ein so kleines Meer zu durchqueren. Er ließ den Großwesir kommen und deutete ihm an, daß er unzufrieden sei mit der Langsamkeit der Überfahrt. Er deutete es nur an, er sagte es nicht genau. Denn, traute er schon keinem seiner Diener, solange er sich auf fester Erde befand, so traute er ihnen noch weniger, wenn er auf dem Wasser umherschwamm. Gewiß war man auch zur See in Gottes Hand, aber auch ein wenig in der des Kapitäns. Überhaupt, sooft er an den Kapitän dachte, wurde der Schah unruhig. Ihm gefiel der Kapitän gar nicht, besonders, weil er sich nicht erinnern konnte, ihn schon jemals gesehen zu haben. Er war nämlich äußerst mißtrauisch. Selbst die Männer, die ihm heimisch und wohlvertraut waren, verdächtigte er leicht und gerne; wie erst diejenigen, die er nicht kannte oder an die er sich nicht erinnerte? Ja, er war dermaßen mißtrauisch, daß er nicht einmal sein Mißtrauen zu erkennen zu geben wagte – in der kindischen und mächtigen Herrn oft eigenen Überzeugung, sie seien noch schlauer als ihre Diener. Deshalb deutete er jetzt dem Großwesir auch nur vorsichtig an, daß ihm dies lange Herumreisen nicht ganz geheuer vorkomme. Der Großwesir aber, der wohl erkannte, daß der Schah sein Mißtrauen nicht ausdrücken wolle, gab keineswegs zu erkennen, daß er Mißtrauen spüre.
»Herr«, sagte der Großwesir, »auch mir erscheint es unverständlich, daß wir so lange Zeit brauchen, um das Meer zu überqueren.«
»Ja«, bestätigte der Schah, als ob er selbst erst durch diese Bemerkung des Großwesirs auf die allzu langsame Fahrt aufmerksam gemacht worden wäre, »ja, du hast recht: warum fahren wir so langsam?«
»Man müßte, Herr, den Kapitän befragen!« sagte der Großwesir.
Der Kapitän kam, und der Schah fragte: »Wann erreichen wir endlich die Küste?«
»Großmächtiger Herr«, erwiderte der Kapitän, »das Leben Eurer Majestät ist uns allen heilig! Heiliger ist es uns als unsere Kinder, heiliger als unsere Mütter, heiliger als die Pupillen unserer Augen. Unsere Instrumente kündigen einen Sturm an, so friedselig das Meer auch im Augenblick erscheinen mag. Wenn Eure Majestät an Bord sind, müssen wir tausendfach achtgeben. Was gibt es Wichtigeres für unser Leben, für unser Land, für die Welt als das geheiligte Leben Eurer Majestät? – Und unsere Instrumente kündigen leider Sturm an, Majestät!«
Der Schah sah nach dem Himmel. Er war blau, straff gewölbt, strahlend. Der Schah dachte, daß ihn der Kapitän belüge. Er sagte es aber nicht. Er sagte nur: »Mir scheint, Kapitän, daß deine Instrumente gar nichts taugen!«
»Gewiß, Majestät«, antwortete der Kapitän, »auch Instrumente sind nicht immer zuverlässig!«
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