Gretel Mayer, geboren 1949 in München, war viele Jahre als Buchhändlerin tätig, bevor sie ihre Leidenschaft fürs Schreiben entdeckte. Obwohl ihr Lebensmittelpunkt seit Jahrzehnten in Unterfranken liegt, schlägt ihr Herz noch immer für ihre oberbayerische Heimat. Ihr 2018 erschienenes Romandebüt »Der Tod des Chiemseemalers« ist der erste Kriminalroman um Wachtmeister Fanderl und Polizeioberkommissär Benedikt von Lindgruber.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
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© 2020 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: Malgorzata Maj/Arcangel.com, mauritius images/Digfoto/imageBROKER
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer
Lektorat: Uta Rupprecht
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-655-5
Originalausgabe
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Dieser Roman wurde vermittelt durch die
Autoren- und Projektagentur Gerd F. Rumler, München.
So viel kann ich gar nicht essen,
wie ich kotzen möchte!
Max Liebermann, deutscher Maler, 1847–1935,
beim Anblick des Fackelzuges der neuen Machthaber
in Berlin am 30. Januar 1933
»Jetzt geht’s langsam dem Ende zu. Es wird Zeit, dass i aufn Gottesacker umzieh«, meinte die alte Michelbergerin. Böse Zungen nannten sie auch »die Dorfratschn«, denn bis vor Kurzem hatte sie unablässig und sehr zuverlässig das ganze Dorf mit Gerüchten und Neuigkeiten versorgt. Seit dem Frühjahr jedoch wollten die Beine nicht mehr, und sie saß, versorgt von den Nachbarinnen, nur noch in ihrem alten Sessel am Fenster. Sie achtete sehr darauf, dass dieser an genau der richtigen Stelle stand, denn dann konnte sie über ihren kleinen Bauerngarten vor dem Haus auf die angrenzende Wiese und die Dächer der zum Chiemsee hin liegenden Höfe und Häuser blicken. Rechts davon glitzerte sogar ein kleines Stück des Sees, worauf sie keinesfalls verzichten wollte, genauso wenig wie auf die Chiemgauer Berge im Hintergrund, mit denen sie ihr langes Leben verbracht hatte. Manchmal zeigten sie sich sanft grün und blau und lagen im Dunst, dann wieder schien es, als könnte man danach greifen; in den harten Wintern waren sie schneebedeckt bis in die Täler und in den heißen Sommern oft von drohend schwarzen Wolken umhüllt, die zumeist die gefürchteten Chiemsee-Gewitter mit sich brachten.
Aber der früher so flinke und helle Kopf der Michelbergerin war müde geworden. Immer häufiger nickte sie ein und träumte von ihren längst verstorbenen Eltern und Schwestern und vom Julius Bergleitner, der die große Liebe ihres Lebens gewesen war, der sie aber verschmäht und sich für eine andere entschieden hatte. Viele Jahrzehnte war das jetzt her, doch ihr Herz hatte nie aufgehört zu schmerzen, und so war sie halt eine alte Jungfer geworden. Zwischendurch aber wurde sie für kurze Zeit wieder hellwach, nahm einen Schluck von ihrem Dünnbier und verfolgte das Geschehen vor dem Fenster.
Mitte September war es dann so weit. Die Schneiderlisl, die ihr eine Suppe bringen wollte, fand sie leblos in ihrem Sessel, und der Doktor aus Breitbrunn konnte ihr einen friedlichen Tod bescheinigen. Bei ihrem Begräbnis war fast das ganze Dorf zugegen, und in der Kirche, die die Michelbergerin immer geputzt und mit frischen Blumen versorgt hatte, und auf dem Friedhof, wo sie stets die verlassenen Gräber gepflegt hatte, drängten sich die Menschen. Der Pfarrer Grimsler hielt eine bewegende Trauerandacht, die alten Nachbarinnen der Michelbergerin beteten ein »Gegrüßet seist du, Maria« nach dem anderen, und der Frauenchor sang.
Fast alle Einwohner der kleinen Chiemsee-Gemeinde waren gekommen, auch die größten Bauern der Gegend, der junge Riedingerbauer mit seiner hochschwangeren Frau Luise, der Huberbauer mit seinen Kindern und dem altgedienten Knecht Xaver und der Meierhoferbauer mit seiner ebenfalls schwangeren Frau Annamirl.
In vorderster Reihe neben dem Seewirt und dem Lehrer stand der frischgebackene Wachtmeister Gustav Fanderl, von allen im Dorf nur »der Fanderl« genannt, mit seiner Frau Therese, daneben der alte Hauptwachtmeister Hofer, der sich seit einem Jahr in Pension befand.
Etwas abseits hielt sich der Fritz Bergleitner, Sohn des von der Michelbergerin einst so geliebten Julius Bergleitner. Er trug eine Sonnenblume in der Hand und hatte tatsächlich ein wenig feuchte Augen. Die anwesenden Dörfler nickten ihm zwar alle kurz zu, hielten aber Abstand zu ihm. Fritz war wegen seiner immer noch aufrecht zur Schau getragenen kommunistischen Gesinnung ein Außenseiter in der Dorfgemeinschaft und wurde zumeist nur »der Rote« genannt.
»Der muss schwer aufpassen, dass er ned eines Tages in Dachau landet«, meinten viele der Dorfbewohner.
Eine unsäglich bleierne Schwüle lag über dem Friedhof, die kräftige, stechende Mittagssonne war hinter einer dichten Dunstschicht verschwunden, der See, den man vom Friedhof aus gut sehen konnte, lag graublau und bewegungslos, und die Berge wirkten dunkel und drohend. Die beiden Hochschwangeren und auch die alten Freundinnen der Verstorbenen atmeten schwer, und der Knecht Xaver murmelte wie schon so oft in seinem Leben: »Des wird a besonders schwers Septembergewitter. Ich sag ja immer, die können’s in sich haben.«
Dass es dann aber derart schauerlich werden sollte, ahnte an diesem Nachmittag noch keiner der Anwesenden.
Nachdem fast alle Trauergäste den Friedhof schon verlassen hatten, kam der Bestatter Freudinger und steckte ein schlichtes Holzkreuz mit der Inschrift »Heidemarie Michelberger 1849–1933« auf den Grabhügel.
Etwa um Mitternacht, die alte Michelbergerin war gerade einige Stunden unter der Erde, kam plötzlich wie aus dem Nichts ein starker Sturm auf. Das alte Gebälk des Klosters auf der Fraueninsel ächzte, die Fensterläden schlugen schwer, und fast alle Nonnen wurden schon lange vor der Laudes aus dem Schlaf gerissen. Die beiden Novizinnen Hilda und Sophie standen schlaftrunken am Fenster ihrer Kammer und betrachteten die hohen, gischtgekrönten Wellen des Chiemsees, die heftig donnernd an den nahen Dampfersteg schlugen. Es war pechschwarze Nacht, nur über den gegenüberliegenden Bergen zog sich ein gespenstischer schwarz-gelber Lichtstreifen von der Kampenwand bis zum Hochfelln und Hochgern. Die seltsame Erscheinung wölbte sich langsam und drohend auf den See und die Fraueninsel zu und schob eine riesige dunkle Wolkenwand wie eine Riesenwalze vor sich her. Ein paar heftig knallende Donnerschläge waren zu hören.
Hilda deutete mit ihrer kräftigen, derben Bauernhand hinaus zum See. »Sophie, schau doch mal, es schneit, jetzt im September.«
Und tatsächlich entlud die schwarze Wolke ein heftiges Flockengewirbel über den See und die Insel. In kürzester Zeit lag eine dichte Schneedecke über dem Klostergarten, in dem die beiden Novizinnen noch am Tag zuvor bei kräftiger Mittagssonne Unkraut gejätet hatten.
Hilda wandte sich zu Sophie um, die bewegungslos am Fenster stand und in das tobende Herbstgewitter hinausstarrte. »Wo ist denn eigentlich die Flora? Sie müsste von dem ganzen Getöse doch auch aufgewacht sein«, fragte sie.
Über den Buchten des Sees jenseits der Insel wütete der Sturm nicht ganz so stark wie draußen auf dem Weitsee, doch auch hier peitschten die Wellen heftig polternd in den Schilfgürtel. Das dunkle Bündel, das schon seit geraumer Zeit von der Insel herübertrieb, verfing sich nun zwischen Steinen und Schilf im flachen Wasser der Bucht.
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