Theo straffte sich. »Wenn Sie’s genau wissen wollen, wir haben die Hitlerschen ganz und gar abgelehnt. Ab und zu haben wir uns mitm Bergleitner und mitm Xaver, dem Knecht vom Huberbauern, unterhalten. Das sind ja noch die Einzigen hier im Dorf mit vernünftigen Ansichten.«
»Und deine Eltern und Geschwister? Was haben die dazu gemeint?«, wollte jetzt der Fanderl wissen.
»Ach, meinen Eltern war das eigentlich egal. Mein Vater hat manchmal gmeint, so eine aus der Stadt wär nichts für mich. Meine Mutter hat gar nichts gsagt, nur grantig gschaut wie immer, und die Lisi hat zu ihrer Irmengard gebetet. Bloß mein großer Bruder, der Alfred, der hat furchtbar gschimpft. Der ist ja sehr aktiv in der Partei, für den gilt ja nichts anderes mehr. Der will ja schon seit Jahren, dass ich da mitmach, und mit der Erna, der Tochter von der Vorsitzenden der NS-Kreisbäuerinnen, will er mich auch immer verkuppeln. Der war einfach stocksauer auf die Flora, vor allem, weil sie nie mit ihrer Meinung hinterm Berg ghalten hat.«
Theo schüttelte den Kopf. »Der Alfred hat nur Angst ghabt vor die berühmten Theaterleut in München und vor der Äbtissin, sonst hätt er die Flora womöglich noch anzeigt. Vollkommen ausgerastet ist er, als die Flora dann noch auf die Idee kam, eine Laienschauspieltruppe zu gründen und jeden Monat im Seewirt was aufzuführen. Von wegen ›subversivem Gedankengut‹ hat er rumgeschrien und dass er sie zum Teufel jagen wird!«
Theo liefen nun die Tränen über die Wangen.
»Sie war mein Lebensmensch«, stammelte er schluchzend. »Des muss doch ein Unfall gwesn sein, wer würd denn meine Flora umbringen?«
»Der Form halber müssen wir dich jetzt noch fragen, wo du gestern zwischen acht Uhr abends und zwei Uhr nachts warst, Theo«, sagte Fanderl.
»Hier in der Wirtschaft, im Ausschank, von abends sieben bis nach eins. Und dann hab ich noch aufgräumt«, antwortete Theo. »Meine Eltern und die Lisi können’s bezeugen. Der Alfred hat freighabt.«
In diesem Moment öffnete sich die Küchentür, und die Lisi rief: »Kommst jetzt endlich zum Kartoffelschälen?«
Theo stand auf.
Fanderl und Benedikt tranken ihren Kaffee aus.
»Also der trauert schwer, der Theo, und außerdem hat er ein handfestes Alibi. Aber diesen Alfred müssen wir uns unbedingt schnell vorknöpfen«, meinte Benedikt.
»Dass wir zwei uns immer mit so braunen Gesellen rumschlagen müssen«, sinnierte Fanderl vor sich hin.
»Sei vorsichtig mit dem, was du sagst, du bist Staatsdiener! Haben sie dich eigentlich noch nie gefragt, wann du in die Partei eintrittst?«, fragte Benedikt. »Ich steh da ganz schön unter Druck.«
Fanderl zuckte die Achseln. »Ich hab gesagt, dass ich ja schon Wachtmeister bin und außerdem noch Mitglied in der freiwilligen Feuerwehr. Das wäre genug! Seitdem hab ich nix mehr ghört.«
»Na, wart’s mal ab«, meinte Benedikt pessimistisch.
Als Fanderl und Benedikt den Seewirt verlassen wollten, trafen sie an der geöffneten Tür mit einem wahrlich aufsehenerregenden Paar zusammen. Die eintretende Dame war groß und stattlich, sie trug einen wallenden schwarzen Nerzmantel und einen ebenso schwarzen Hut mit Federn. Der Spitzenschleier vor ihrem Gesicht war auf so raffinierte Weise durchsichtig, dass man die stark geschminkten Züge darunter ziemlich genau wahrnehmen konnte. Unter dem Hut und seitlich des Schleiers quollen blondierte Locken hervor. Ihr folgte ein Mann mit schwarzer Pelerine und einem schwarzen Filzhut, er war wesentlich schmaler als die Dame und auch um einiges kleiner. Benedikt war sofort klar, wen er da vor sich hatte: das legendäre und skandalumwitterte Schauspielerehepaar Siegfried und Henriette von Prielmayer, die Eltern der toten Flora.
Durch Fini Pichler, die Sekretärin des Kommissariats, die eine begeisterte Theatergängerin und stets bestens über das Leben der Schauspieler informiert war, wusste Benedikt von Lindgruber so einiges über das Paar. Zum Beispiel war niemandem so recht klar, wie das »von« vor den urbayerischen Namen Prielmayer gelangt war. Manche behaupteten, der Prielmayer habe sich den Adelstitel einfach selbst verliehen, er stamme ganz schlicht aus der bekannten Metzgerfamilie Prielmayer, die in München mehrere Geschäfte hatte. Andere meinten, er sei der uneheliche Sohn einer Fanny Prielmayer, einer mittelmäßigen Varieté-Tänzerin, und sein Vater der Sänger Gerofried Liebsam vom Gärtnerplatztheater, der es nie in die erste Besetzung geschafft hatte.
Jedenfalls war Siegfried von Prielmayer als sehr junger Mann wie Phönix aus der Asche in den Besetzungslisten des Münchner Schauspielhauses aufgetaucht und hatte in kürzester Zeit die Herzen des Publikums erobert, vor allem natürlich die der Frauen. Mit dichtem schwarzen Haar, glutvollen dunklen Augen und einem äußerst fein geschnittenen Gesicht war er eine eindrucksvolle Erscheinung. Seine eher helle Stimme war weich und flirrend, konnte aber, wenn die Rolle es verlangte, durchaus an Kraft und Stärke gewinnen. Der einzige Makel Prielmayers war, dass er nicht sehr groß gewachsen war. Er trug deshalb immer Schuhe mit erhöhten Absätzen und sehr lange Hosen, die diese verbargen.
Natürlich war der junge Schauspieler, der von Beginn an eine Rolle nach der anderen spielte, kein Kostverächter, und so reihte sich, bis er Henriette Rottmann kennenlernte, Affäre an Affäre. Das sollte nicht heißen, dass sich die beiden dann in ihrem Zusammenleben besonders treu gewesen wären, nein, alle zwei gingen des Öfteren »ganz schön nebennaus«, was zwangsläufig zu familiären Szenen führte, die absoluten Bühnencharakter hatten.
Siegfried von Prielmayer und Henriette Rottmann hatten sich bei einer privaten Faschingsfeier kennengelernt, zu der Henriette, im Haar eine wilde Federkombination, in einem fleischfarbenen Trikot erschienen war, das nichts, aber auch gar nichts von ihren üppigen weiblichen Formen verbarg, und Siegfried war ihr auf der Stelle verfallen. Die junge Frau war nach dem Besuch so einiger Internate wieder nach München zurückgekommen und hatte sich in den Kopf gesetzt, Schauspielerin zu werden. Allerdings war sie zweimal durch die Aufnahmeprüfung der Schauspielschule gefallen, und auch dem privaten Schauspiellehrer Gero Hauptmann, den sie jahrelang konsultierte, war es nicht gelungen, ihr sonderlich viel schauspielerisches Können beizubringen.
Möglicherweise wäre die Liaison zwischen Siegfried und Henriette von gar nicht so langer Dauer gewesen, hätten nicht beide über einen messerscharfen, berechnenden Verstand verfügt. Henriette erkannte, dass ihr der gefeierte Jungschauspieler den Weg auf die ersehnte Bühne bereiten konnte, und für Siegfried sollte es durch die Verbindung mit der wohlhabenden Bürgerstochter endlich vorbei sein mit Geldknappheit und Schulden. So wurde eine selbstverständlich rauschende Hochzeit gefeiert, und bald stand natürlich auch Henriette auf den Brettern, die die Welt bedeuten, allerdings zu ihrer Empörung nur in den kleinsten und unbedeutendsten Rollen.
Ihre ständigen Beschwerden und Auftritte beim Intendanten brachten große Unruhe in die Truppe, und so waren alle mehr als erleichtert, als sie verkündete, dass sie guter Hoffnung sei und sich deshalb für einige Zeit von der Bühne zurückziehen werde. Nach einer komplizierten Schwangerschaft, bei der Henriette unnatürlich viel Gewicht zulegte, wurde die hübsche kleine Flora geboren. Nach zwei Jahren kehrte Henriette mit einer deutlich üppigeren Figur auf die Bühne zurück und fand sich schließlich damit ab, Frauen mittleren Alters und sogenannte Matronenrollen zu verkörpern.
Neben der Schauspielerei beteiligte sie sich lebhaft am gesellschaftlichen Leben der Stadt, und da ihr Mann mittlerweile schlanke, sehr junge Damen bevorzugte, nahm sie sich ebenfalls einen Liebhaber nach dem anderen. Die kleine Flora, die mehr oder weniger von der Haushälterin aufgezogen wurde, sah diesem Treiben mit erstaunten Kinderaugen zu.
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